30. Januar 1929 "La Goulue" stirbt
Henri Toulouse-Lautrec sagte über die Cancan-Tänzerin, die sich "La Goulue" nannte: "mal fröhlich, mal schüchtern, mal kühn oder katzenhaft graziös, geschmeidig wie ein Handschuh." Autorin: Prisca Straub
30. Januar
Montag, 30. Januar 2017
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
"Mein Hintern ist der schönste in ganz Frankreich!", sagt die Dame mit dem tadellosen Selbstbewusstsein - und grätscht das rechte Bein hüfthoch empor. Der Unterrock wirbelt weit und gibt den Blick von hinten frei auf schwarze Seidenstrümpfe und üppig weiße Spitzenunterwäsche. Die Bohemiens sind gebannt. Henri de Toulouse-Lautrec hat die gaffende Menge mit den hohen Zylindern gleich mit ins Bild gesetzt: Das Plakat, mit dem der französische Maler 1891 für das Pariser Amüsierlokal Moulin Rouge wirbt, macht nicht nur die abgebildete Tänzerin weltberühmt, sondern auch den Künstler.
Die Unersättliche
Die Cancan-Tänzerin, die ihre rüschenbedeckten Rundungen ganz Paris entgegenreckt, nennt sich "La Goulue", die Unersättliche. Sie ist knapp über 20 und firmiert tagsüber als Louise Weber - als Wäscherin in der Arbeitervorstadt Clichy. Und sie hat ein Händchen für Seidenstrümpfe: Zu Beginn ihrer Karriere fischt sie nämlich die begehrten Accessoires vor der Show kurzerhand aus dem Wäschetrog. Dann - nach durchtanzter Nacht - erhalten die arglosen Kundinnen ihr Eigentum zurück. Pünktlich und frisch gewaschen.
Um originelle Mode-Einfälle ist Louise auch weiterhin nie verlegen: Als das Moulin Rouge sie Anfang der 1890er entdeckt, hat "La Goulue" ihre Beinschwünge so perfektioniert, dass sie mit wohlkalkulierten Einblicken punkten kann: In den Schritt ihres Schlüpfers hat die Unersättliche ein kleines, rotes Herz gestickt - eine absolute Sensation - und der Anblick ist eine begehrte Auszeichnung für die Kavaliere ihrer Wahl! Doch das wirklich lukrative Geschäft findet hinter der Bühne statt. Nicht nur Henri de Toulouse-Lautrec folgt seinem Model auf Schritt und Tritt.
Dessous-Virtuosin, Tänzerin und Dompteuse
Nach fünf Jahren wähnt sich "La Goulue" auf dem Höhepunkt ihres Ruhms. Der Publikumsliebling des Moulin Rouge steigt aus und macht sich selbständig: Die Dessous-Virtuosin hängt ihr Rüschenkostüm an den Nagel und arbeitet fortan auf eigene Rechnung: Sie kauft eine Jahrmarktsbude, lebt im Wohnwagen und zeigt orientalische Tänze. Toulouse-Lautrec bemalt die Holzdekoration mit frivolen Szenen vom Montmartre. Doch die Rechnung geht nicht auf: Das Publikum bleibt aus. Die Unersättliche leert mehr Weinflaschen als ihr gut tut - und Toulouse-Lautrec säuft sich zur Jahrhundertwende ganz unter die Erde.
Jetzt wird es still um Madame Louise. Eine Karriere als Raubtier-Dompteuse verläuft im Sand. Hin und wieder taucht sie noch am Montmartre auf, wo sie Zündholzer verkauft. Vor dem Moulin Rouge - weißhaarig, gebückt und aufgedunsen. Den Varieté-Star von einst erkennt dort niemand mehr. Am 30. Januar 1929 stirbt "La Goulue" mit 63 Jahren - unbeachtet, allein und von allen vergessen.
Jahrzehnte später taucht ein kurzer Filmausschnitt auf: eine ältere Dame mit rundem Kindergesicht und Wollweste auf der Treppe eines Wohnwagens. Sie rafft den wadenlangen, karierten Rock und versucht ein paar Tanzschritte. Die Taille ist verschwunden, aber der Rhythmus ist noch da: "La Goulue" - schwarz-weiß, verruckelt und - reizend.