21. Juli 1873 Erster Zugüberfall im Westen der USA
Den Salon ausrauben oder die örtliche Bank? Kein Problem. Auch Postkutschen hatten die Verbrecher im Wilden Westen längst im Portfolio. Eine Sache aber fehlte noch, und niemand geringerer als der legendäre Jesse James nahm sie mit seiner Bande in Angriff: Die Eisenbahn! Autor: Thomas Grasberger
21. Juli
Mittwoch, 21. Juli 2021
Autor(in): Thomas Grasberger
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach / Susi Weichselbaumer
Der lebenskluge Philosoph Michel de Montaigne brachte es einst auf den Punkt: "Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab." Nun war dieser gelehrte Franzose des 16. Jahrhunderts zwar ein weitgereister Mann, aber in den US-amerikanischen Bundesstaat Iowa kam er nachweislich nie. Obwohl der Landstrich gut zu Montaignes Lebensweisheiten gepasst hätte. Iowa? Endlos viele Hügel, ein ewiges Auf und Ab! Man stelle sich das nur mal in einer Postkutsche vor! Ganz wie Montaigne die Welt beschrieb: "Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlass. (…) Selbst die Beständigkeit ist nur ein verlangsamtes Schaukeln."
Auf und nieder
Nun ja, diese permanente Schaukelei muss man natürlich vertragen, rein magenmäßig. Aber zur Verteidigung der Welt im Allgemeinen und der Hügellandschaft Iowas im Besonderen sei angemerkt: Das Auf und Ab hat auch Vorteile. Zum Beispiel bei Postkutschen-Überfällen! Es gehört quasi zum kleinen Einmaleins des Kutschen-Raubes, dass man dafür am besten hügeliges Gelände wählt. Vorzugsweise mit steilen Steigungen und schwer einsehbaren Kurven!
Hände hoch!
Für die großen Revolverhelden des Wilden Westens waren das natürlich Binsenweisheiten. Einer wie Jesse James zum Beispiel kannte solche Tricks in- und auswendig. Obwohl er eigentlich gelernter Bankräuber war; aber Jahrmärkte und Postkutschen hatten Jesse und seine Leute auch im Repertoire. Als sie dann eines Tages das Portfolio ihrer Firma etwas erweitern wollten – Diversifikation ist schließlich alles im Geschäftsleben! – da verlegten sie sich kurzerhand auf Eisenbahnüberfälle.
Ihr Gesellenstück lieferte die Gang am 21. Juli 1873 ab, vier Meilen westlich von Adair, Iowa. Wo auch sonst? Möchte man fragen.
An jenem Montag um 20 Uhr 30 schnaufte Personenzug Nummer 2 der Rock Island Railroad eine steile Steigung hinauf und wurde immer langsamer, als er sich einer scharfen Kurve näherte. An deren Ende hatten Jesse und seine Leute mit einem Seil die Schienen aus dem Bett gerissen; der Zug entgleiste, Lokführer John Rafferty wurde getötet, sein Heizer verletzt. Und aus dem Gebüsch sprangen die bewaffneten Banditen in voller Ku-Klux-Klan-Montur. Schließlich waren Jesse und sein Bruder Frank alte Südstaaten-Kämpfer gewesen. Und nach dem Bürgerkrieg geblieben! Rasch nahmen sie 2000 Dollar aus dem Tresor, knöpften den Passagieren Schmuck und Geld ab, verstauten ihre Beute in Säcken und ritten – die typischen Rebellenschreie der Südstaatler ausstoßend – in den Abendhimmel von Iowa.
Es sollte nicht ihr letzter Überfall sein. Konföderierten-freundliche Zeitungsverleger verpassten Jesse James fortan eine Art Robin-Hood-Image. Doch Berühmtheiten dieser Art werden erfahrungsgemäß nicht besonders alt. Jesse war noch keine 35, als er Jahre später in einen Hinterhalt geriet. Aber immerhin wurde er posthum zur Wildwest-Legende geadelt. Wovon langfristig auch Adair, Iowa profitierte. Denn die 800-Einwohner-Gemeinde unterhält heute eine Jesse-James-Gedenkstätte: Für den ersten Eisenbahnraub im Westen der USA! Na, wer sagt´s denn! Der alte Montaigne hat wieder mal recht behalten: "Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab."