20. Juni 1944 Erstes menschengemachtes Objekt fliegt ins All
Das erste menschengemachte Objekt im All war leider eine Terrorwaffe der Nazis. Die Senkrechtstarts der sogenannten V2 waren die ersten suborbitalen Flüge. Mit einer Flughöhe von rund 175 km überschritt sie die Grenze zum Weltraum und bewies, dass der Raketenantrieb für die Raumfahrt brauchbar ist. Autor: Hellmuth Nordwig
20. Juni
Montag, 20. Juni 2022
Autor(in): Hellmuth Nordwig
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
"Ich werde nie vergessen, wie die glühende Zigarre (...) in den Himmel stieg", das berichtet ein Zeitzeuge aus dem Münsterland. Die "Zigarre", das war eine besonders perfide Waffe, die Deutschland ab September 1944 abgefeuert hat: auf Ziele in Frankreich und Belgien, von denen die deutschen Bodentruppen sich längst hatten zurückziehen müssen, und auf England. Eine Rakete mit rund 300 Kilometern Reichweite, die mehrfache Schallgeschwindigkeit erreichen konnte. So schlug sie am Boden ein, bevor die Opfer sie hören konnten. Die Flugabwehr war machtlos.
Unausgereift, doch tödlich
"Aggregat 4" wurde die Rakete zunächst genannt, später erfand Joseph Goebbels die Bezeichnung "Vergeltungswaffe 2", kurz "V2". Entwickelt hat sie unter anderem Wernher von Braun, nach dem in Deutschland immer noch Straßen benannt sind. Rund 6000 Stück wurden gebaut und etwa die Hälfte davon eingesetzt, von denen glücklicherweise ein guter Teil ihr Ziel verfehlte. Technisch war die V2 alles andere als ausgereift, obwohl die Entwicklung teurer war als die der Atombombe. Schon in der Testphase klappten nur wenige Flüge, auch wenn eine der Raketen am 20. Juni 1944 als erstes menschengemachtes Objekt den Weltraum erreichte.
Viel wichtiger ist aber, was die Waffe trotz ihrer technischen Mängel angerichtet hat. Man stelle sich vor: Ein tonnenschweres Objekt mit rund 700 Kilogramm Sprengstoff an Bord schlägt mit etwa dreifacher Schallgeschwindigkeit ohne Vorwarnung ein. Zwar konnte die Rakete im Prinzip durch Radiowellen ins Ziel gesteuert werden, aber nur auf einen halben Kilometer genau. Besonders in Städten war das verheerend. Zum Beispiel am Mittag des
25. November 1944 in London: Möglicherweise war der Bahnhof Charing Cross das Ziel, getroffen wurde aber ein Woolworth-Kaufhaus. Etwa 160 Menschen kamen ums Leben.
Außerhalb des Gebäudes wurden Passanten durch die Druckwelle weggeschleudert, ebenso ein Doppeldeckerbus. Rettungskräfte fanden die Toten meist noch auf ihren Sitzen unter einer dicken Staubschicht.
Das erste Objekt im All - eine Terrorwaffe
Montiert wurde die V2 ab 1944 vor allem in einem Stollen in Thüringen. An dessen Rand hatte das Nazi-Regime das Konzentrationslager Mittelbau-Dora eingerichtet. Die Häftlinge wurden brutal behandelt. Mindestens 16.000 von ihnen sind dort verhungert, umgebracht worden oder entkräftet gestorben. "Es hat keine andere Waffe gegeben", sagt der Leiter der KZ-Gedenkstätte, "die schon während der Produktion so viele Menschenleben gefordert hat". Es waren mehr, als durch die Raketenangriffe selbst ums Leben gekommen sind.
Auch die "Zigarren", die im Münsterland abgeschossen wurden, erreichten ihr Ziel nur ungefähr. Eigentlich auf den Hafen von Antwerpen gerichtet, zerstörten 1.610 von ihnen die Stadt in wenigen Monaten nahezu restlos. Am 16. Dezember 1944 schlug eine Rakete während der Nachmittagsvorstellung im Kino Rex ein. 567 Menschen kamen ums Leben. Längst hatte sich gezeigt, dass die V2 sich nur zu einem Zweck eignete: als Terrorwaffe gegen die Zivilbevölkerung.