6. September 1780 Goethe krakelt "Wanderers Nachtlied" an Jagdhüttenwand
Man kann es sich nicht immer aussuchen, wann und wo einen als Dichter das Genie streift. So passierte Goethe auf einer Bergtour ein später weltberühmtes Gedicht. Er ritzte es schon mal in die Hüttenwand. Bis heute können Literaturfans und Bergfexen es dort in Bergeshöhen lesen. Autor: Xaver Frühbeis
06. September
Dienstag, 06. September 2022
Autor(in): Xaver Frühbeis
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Narrenhände, sagt der Volksmund, beschmieren Tisch und Wände. Und tatsächlich. Wo man hinschaut: bekrakelte Schulbänke, bemalte S-Bahn-Züge, Berghütten mit touristischen Inschriften. Offenbar strebt der Mensch danach, überall kleine, literarische Hundehäufchen zu hinterlassen. Und man fragt sich, ob diese Leute tatsächlich glauben, dass sich irgendjemand für ihre Einträge interessiert. "Otto war hier, 6. September". Wer soll das lesen? Oder gar wissen wollen, was für ein Otto das gewesen ist? Völlig anders wäre es natürlich, wenn da nicht "Otto" stünde, sondern ... zum Beispiel ... "Goethe". Das würde alle Welt lesen wollen. Und natürlich würde der gute Goethe auch nicht so ein primitives "Goethe was here" an die Wand kratzeln. Das Mindeste, was wir von unserm Dichterfürsten erwarten dürfen, sind ein paar hübsche Verse. "Über allen Gipfeln ist Ruh", zum Beispiel. "In allen Wipfeln spürest Du kaum einen Hauch."
Wanddichtung
Das hat Goethe an die Wand einer Jagdhütte geschrieben. Eine kleine Hütte im Thüringer Wald, an den Hängen des Kickelhahns, der nächste Ort: Ilmenau, das Herzogtum: "Sachsen-Weimar-Eisenach". Goethe war "Geheimer Legationsrat" des Herzogs. Verantwortlich unter anderem für die Sanierung der klammen Staatskasse. In Ilmenau hatte es früher Silberbergbau gegeben, Goethe wollte untersuchen lassen, ob da nicht noch irgendwo Silber im Boden sei. Und wenn er schon mal dort war, dann hat er seinen Herzog auf die Jagd begleiten müssen. Am Kickelhahn hatte der Herzog Jagdhütten errichten lassen, mit Laufgräben und überdachten Pavillons, wo er selbst bei Wind und Regen bequem drauf warten konnte, dass ihm das Wild vor die Flinte lief. Die Nächte verbrachte man auf halber Höhe am Berg in einer rustikalen Jagdhütte, einem einfachen Holzbau, unterm Dach die Schlafstuben, einsam gelegen, mitten im Wald. Und in einer besonders idyllischen Nacht hat Goethe da offenbar die Dichtlust gepackt.
Und weil aber in der Schlafstube kein Papier zur Hand war, hat er die Verse, die ihm eingefallen sind - von der Stille über den Gipfeln und den schweigenden Vögeln und dass auch wir bald ruhen werden - mit Bleistift ins Holz der Schlafstubenwand hineingeschrieben. Das war - man hat es erforscht - am 6. September 1780.
Goethe was here, and returns
Fünfzig Jahre später, als alter Mann, ist Goethe dann noch einmal den Kickelhahn hinaufmarschiert. Natürlich hat er auch die Jagdhütte besucht und ist sofort ins obere Stockwerk geklettert, um zu schauen, ob da an der Wand das Gedicht noch zu lesen war. Und tatsächlich: da war es noch. Sein Begleiter berichtet, Goethe sei bei dem Anblick ganz wehmütig zumute geworden, und er habe sein schneeweißes Taschentuch ziehen müssen, aus sentimentaler Erinnerung und vielleicht auch, weil er sein eigenes Schweigen schon nahen gespürt hat.
Und auch mit der Inschrift an der Hüttenwand ist es bald zu Ende gegangen. Übernachtende Beerensammler haben auf ihr Feuer nicht aufgepasst, und so ist die Hütte abgebrannt und das Gedicht damit. Natürlich hat man alles originalgetreu wieder aufgebaut. Und wer heutzutage auf den Kickelhahn wandert, der kann in der Jagdhütte Goethes berühmtes Gedicht - übersetzt in an die zwanzig Sprachen - lesen. Auf einer Wand aus Plexiglas. In der Hütte selbst haben viele Besucher ihre "Otto war hier"-Hundehäufchen im Holz hinterlassen. Ein zweiter Goethe war noch nicht darunter.