4. September 1802 Göttinger Hilfslehrer entschlüsselt Keilschrift
Wenn es sich einer mal ausgedacht hat, dann wird man schon dahinter kommen, was er sich dabei gedacht hat – denkt Hilfslehrer Grotefeld und entziffert mal eben die Keilschrift. Autor: Simon Demmelhuber
04. September
Dienstag, 04. September 2018
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Zwei Freunde gehen spazieren. Wahrscheinlich ist es ein Sonntag. Unter der Woche hätten beide keine Zeit: Georg Grotefeld ist 27, studiert Alte Sprachen, arbeitet nebenher als Hilfslehrer am Göttinger Gymnasium. Auch der etwas jüngere Raphael Fiorillo ist als Sekretär der Universitätsbibliothek stark eingespannt. Aber heute haben sie frei! Heute räkelt sich der Himmel blau, heute schlagen die Gedanken Purzelbäume, springen bald dahin, bald dorthin, landen zuletzt in den Ruinen von Persepolis und beim Rätsel der Keilschrift.
Einfach mal dahingedacht…
Keiner kann das Gehäcksel deuten, diesen Winkelwirrwarr, der mehr an Käfer- oder Vogelspuren als an Schriftzeichen erinnert. "Das Zeug bleibt ewig unlesbar", orakelt Fiorillo. Grotefend zuckt nur die Schultern: "Was soll da schwierig sein", blafft er. "Du kannst jede Schrift komplett aus sich selbst heraus entziffern, du musst nur logisch kombinieren." "Beweis es, du Angeber", schießt Firorillo zurück, "knack die Keilschrift!"
Grotefend schluckt den Köder, die Wette gilt! Von orientalischen Schriften und Sprachen hat er keinen Dunst. Aber er denkt scharf, präzise, methodisch. Das zeigt schon die Textwahl. Er entscheidet sich für die Inschrift über einem Königsrelief. Der Philologe weiß, dass solche Zeugnisse einem strengen Schema folgen. Erst der Name, dann die Titulatur, zuletzt die Abstammung. Was da steht, heißt also "Soundso, großer König, Sohn des Soundso". Und noch etwas ist klar: Weil die Namen wechseln, der Herrschertitel aber bleibt, muss die häufigste Zeichenfolge das Wort für König sein.
Scharf kombiniert!
Brilliant deduction, Sherlock! Aber welche Könige sind es? Langsam Watson, ein Schritt nach dem anderen. Fundort und Stilbefunde deuten auf persische Großkönige des 6. bis 4. Jahrhunderts vor Christus. Grotefend mustert die durch griechische Historiker überlieferten Herrscherlisten, grenzt ein, wägt ab, schließt aus. Kyros und Kambyses? Nein! Dann müssten zwei Namen gleich beginnen. Artaxerxes und Kyros? Der eine zu lang, der andre zu kurz. Bleiben nur zwei Kandidaten: Darius und Xerxes.
Excellent, Holmes! Doch das ist nur das Gerüst. Noch hat Grotefend keinen Buchstaben und keinen Lautwert bestimmt. Dazu braucht er die persischen Namen. Als er in Übersetzungen altiranischer Texte auf Dârheûsch und Khschersche stößt, steckt der Schlüssel im Schloss. Bingo! Jetzt kennt er zehn Buchstaben. Das reicht noch nicht, um jenes Wort zu lesen, das König heißen muss. Doch es reicht, um ein Wort zu finden, das sich den Vorgaben und Lücken anschmiegt: Khschêhioh sitzt wie angegossen.
Volltreffer! In nur sechs Wochen hat Grotefend ein Drittel des persischen Keilschriftalphabets entziffert. Am 4. September 1802 präsentiert er den Fund vor völlig verblüfften Göttinger Gelehrten. Dass er das Tor in eine verschlossene Welt aufgestoßen und weit mehr als eine Wette gewonnen hat, ist auch dem Entzifferer sehr wohl bewusst. "Ich habe, so glaub ich, mir ein Denkmal errichtet, dauernder selbst als Erz, fester als Marmorgestein" vermerkt er in seinem lateinischen Lebenslauf. Dem ist nichts hinzuzufügen. Well done, Mr Holmes, well done indeed!