16. Dezember 1986 Michail Gorbatschow telefoniert mit Andrej Sacharow
Dem in der UdSSR hochgeehrte Atomphysiker Andrej Sacharow, Held der sozialistischen Arbeit, wie der Erfolg wohl zu Kopfe gestiegen? Weshalb sonst entwickelte er sich zum Systemkritiker der Sowjetunion. Er wurde dafür verhaftet und ohne Gerichtsverfahren nach Gorki verbannt. Bis zu einem denkwürdigen Anruf. Hartmut E. Lange
16. Dezember
Dienstag, 16. Dezember 1986
Autor(in): Hartmut E. Lange
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Dezember 1986 in der sowjetischen Stadt Gorki. Mitten in der Nacht klingelt es in der Parterre-Wohnung des Plattenbaus Gagarin Straße 214. Andrej Sacharow, der Bewohner der 42 qm Unterkunft, fürchtet, dass es wieder eine der zahlreichen Schikanen ist, mit denen ihn der Geheimdienst seit Jahren traktiert. Doch die drei Männer vor seiner Tür sind nicht vom KGB, es sind Elektriker. Sie sollen das Telefon, das vor sieben Jahren abmontiert wurde, wieder installieren. Nach getaner Arbeit verabschieden sie sich von dem verblüfften Sacharow mit einer Nachricht: Sie werden morgen einen Anruf bekommen, bleiben Sie also zuhause.
Andrej Sacharow ist in den 1950er Jahren der Shootingstar unter den Kernforschern der UdSSR. Bereits mit 22 Jahren wird er Professor, mit 32 jüngstes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Der geniale Physiker spielt eine maßgebliche Rolle beim Bau der sowjetischen Wasserstoffbombe. Für seine Forschungsarbeit erhält er zahlreiche Privilegien und höchste Auszeichnungen: Stalinpreis, Leninpreis, dreimal wird er Held der sozialistischen Arbeit.
Vom Bombenbauer zum kritischen Denker
Als es 1955 bei Atomwaffentests in Kasachstan mehrere Tote gibt, und ganze Landstriche radioaktiv verseucht werden, beginnt ein Umdenken bei dem jungen Physiker. Immer öfter befasst er sich mit politischen und ethischen Fragen: Macht es Sinn, den nuklearen Rüstungswettlauf fortzuführen?
Sollte nicht lieber das friedliche Nebeneinander der Systeme vertieft werden? Auch Umweltschutz und Meinungsfreiheit sind Themen für ihn.
Im Juli 1968 erscheint in der New York Times sein Essay "Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit".
Bisher hatte die Weltöffentlichkeit von einem sowjetischen Physiker namens Sacharow gehört, durch seine Denkschrift lernt sie nun den mutigen Streiter für Abrüstung, Frieden und Meinungsfreiheit kennen.
1975 erhält er den Friedensnobelpreis, doch er darf die UdSSR nicht verlassen. Seine Ehefrau nimmt die Auszeichnung in Oslo entgegen.
Als 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschieren, protestiert Sacharow gegen die Invasion. Der Regimekritiker wird zum Staatsfeind Nummer 1. Er wird in Moskau verhaftet und ohne Gerichtsurteil ins 450 km östlich gelegene Gorki verbannt. Die winzige Wohnung hat kein Radio, keinen Fernseher, das Telefon wird entfernt. Kontakt zu Journalisten wird dem Wissenschaftler verwehrt. Der KGB errichtet ein Orwellsches Überwachungssystem: Sobald Sacharow das Haus verlässt folgen ihm mehrere Personen.
Anruf aus dem Kreml
Am 16. Dezember 1986 klingelt das in der Nacht zuvor montierte Telefon in Gorki. Am Apparat: Michail Gorbatschow. Er teilt Sacharow mit, dass seine Verbannung beendet ist. Sacharow bedankt sich und bittet den Kremlchef um die Freilassung aller politischer Gefangenen des Landes. Zurück in Moskau wird der Physiker wieder politisch aktiv. Er gründet die Organisation MEMORIAL, die die Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltherrschaft betreibt.
Seit 1988 zeichnet die Europäische Union Personen oder Organisationen aus, die sich im Kampf um die Menschenrechte besonders verdient gemacht haben. Sie ehrt sie mit dem Sacharow-Preis.