22. November 1826 Joseph Nicéphore Nièpce macht das erste dauerhafte Foto der Geschichte
Was wären wir heute ohne schnell mal was geknipst und hochgeladen und gelikt? Vielleicht auch nicht so viel anderes als die Pioniere der Fotografie – die wollten Dauerhaftes. Und Lob! Autor: Simon Demmelhuber
22. November
Donnerstag, 22. November 2018
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Erst sieht man gar nichts. Die Dunkelheit blendet. Ganz still ist es. Dann schäumt ein Knistern auf: Ein Flüstern und Wispern, ein weißes Rauschen und schwarzes Rieseln, das Form werden will. Die Augen belauschen ein Selbstgespräch huschender Schatten, soufflieren Erinnerung an bunt und klar Gesehenes, passen unsicheren Schemen vertraute Wörter an: Das links vorne, ist das ein offenes Fenster? Sind das Dächer und Mauern, die sich wie Klötze aus Finsternis und Licht ineinander verkeilen? Ist das ein Turm dahinten, ein Schornstein, ein Baum, eine Kirche?
Was´n das?
Das grieselnde Nachtstück ist die erste Fotografie der Welt, aufgenommen im Spätherbst 1826, vermutlich am 22. November. Es zeigt den Blick aus einem Fenster des Landguts Le Gras in Saint-Loup-de-Varennes. Hier, in der tiefsten burgundischen Provinz, betreiben Claude und Nicéphore Niépce eine Erfinderwerkstatt. Was die Brüder in der Hoffnung auf Regierungsgelder ertüfteln, hydraulische Pumpen etwa, oder den ersten Explosionsmotor, ist technisch brillant, aber finanziell ein Fiasko.
Und was´n jetzt?
Gehetzt von Gläubigern, verhakt sich Nicéphore Niépce ab 1811 in sein Lebensthema: Er will das flüchtige Bild der Camera obscura dauerhaft und unvergänglich festhalten. Zunächst beschichtet er dazu Papier mit lichtempfindlichen Silbersalzen, stellt so das erste Fotonegativ her, scheitert aber dennoch: Alle Papiere schwärzen vollständig ein. Doch Niépce ist ein Genie der Ausdauer. Unermüdlich, zäh, unbeirrbar sucht er einen Stoff, der die Sonne malen lehrt und ihren Abdruck fixiert. Schließlich findet er die fruchtbare Spur: Kupferstecher bestreichen ihre Platten mit einem Lack aus zerriebenem Asphalt und Lavendelöl, der im Licht hart und waschfest wird.
Ist das der Weg? Geduldig, hartnäckig, immun gegen Rückschläge und Enttäuschungen prüft Niépce immer neue Varianten lichtempfindlicher Asphaltgemische. 1822 ist die Idee ausgegoren: Niépce überzieht eine Kupferplatte hauchdünn mit gelöstem Asphalt, legt eine durchsichtig gemachte Radierung auf, setzt den Packen der Sonne aus. Es klappt! Die belichteten Stellen härten durch. Nur da, wo die Zeichnung das Licht abgehalten hat, lässt sich der Asphalt noch abspülen. Übrig bleibt eine seitenverkehrte, beständige Kopie des Originals.
Vier Jahre schleift, verbessert, verfeinert Niépce sein Verfahren. Dann ist er am Ziel. Er setzt eine asphaltkaschierte Zinnplatte in die Rückwand seiner Lochkamera, öffnet das Fenster seines Arbeitszimmers, richtet das Objektiv auf den Hof, belichtet tagelang und hält zuletzt das erste Foto der Welt in Händen: Ein bleibendes Bild, das nicht durch Menschenhand, sondern rein technisch, als Körperspur der Wirklichkeit, entstanden ist.
Heute ist Niépce nahezu vergessen, seine Erfindung aber kennt jeder. Sie speist eine unstillbare Augengier, einen unersättlichen, nachschlagsüchtigen Bilderhunger. Doch je mehr die zeigegeile Bilderflut anschwillt, je mehr Fotos wir knipsen, speichern, teilen, liken, dissen, desto kostbarer wird der fotografische Urblick von Le Gras: Die raunende, rauschende Sinfonie der Schatten und Schemen des Nicéphore Niépce.