28. Oktober 1908 Kaiser Wilhelm gibt ein Interview und löst einen Staatsskandal
Sein im Daily Telegraph veröffentlichtes Gespräch mit Edward Montagu-Stuart-Wortley löste der deutsche Kaiser Wilhelm II. einen Skandal aus: taktlos, undiplomatisch, anmaßend, indiskret und anbiedernd - so war sie eben, Ihre Majestät. Nur führte das große Ego des Imperator Rex diesmal zu einer veritablen Staatskrise. Autor: Simon Demmelhuber
28. Oktober
Freitag, 28. Oktober 2022
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Einfach loslegen, einfach laufen lassen, ohne Rücksicht auf Verluste! Und alle Ohren stehen stramm! Wenn der Kuchen spricht, haben die Krümel eben Pause. Ein Volk andächtig lauschender, selig belehrter, dankbar aufblickender Untertanen, auf die er segnend oder strafend niederblitzt. So muss das sein, so liebt es der Kaiser.
Anlässe gibt es genug: Einweihungen, Jahrestage, Paraden - alles Bühne für großes Majestätstheater. Das Thema? Nebensache! Hauptsache schneidig, zackig, forsch! Hauptsache schmetterndes Blech, Kaiserwetter und Vivat! Hoch!
"Imperator Rex"
In Maßen ist das schmissige Tschingderassabum ja durchaus erhebend. Doch leider übertreibt es Wilhelm II. mit dem Kaisersein. Überall quatscht er drein, reißt alles an sich, weiß alles besser. Und er schwafelt zu viel, zu unüberlegt, zu laut. Für den Hausgebrauch, na gut, Majestät sind halt so. Wenn er sich allerdings als alleiniger Herr und Lenker der Außenpolitik aufspielt, wenn er wie aufgepflanztes Bajonett und blanker Degen tönt, wenn sein Germanengepolter die Nachbarn verprellt, sieht die Sache anders aus. Ein unbedachter Angeber, der mit Tiraden über Deutschlands Sendung, Frankreichs Züchtigung und Englands Tücke zündelt, ist brandgefährlich.
Allmählich drängen selbst konservative Kreise darauf, Wilhelm einzubremsen, bevor er noch mehr Unheil stiftet. So wie unlängst im Juli 1908, als er einem amerikanischen Magazin gegenüber englische Politiker als Trottel beleidigt und Deutschland zur neuen Weltmacht ausgerufen hat. Um den drohenden Skandal zu vermeiden, lässt Reichskanzler Bülow die bereits gedruckte Auflage aufkaufen und einstampfen.
Die Daily-Telegraph-Affäre
Majestät gibt sich einsichtig, löst aber schon ein paar Monate später das nächste Quasseldesaster aus. Am 28. Oktober 1908 bringt der Daily Telegraph ein Interview, in dem Wilhelm über das britische Misstrauen gegen Deutschland herzieht. Verrückt müssen die Engländer sein, verrückt wie die Märzhasen, um seine ausgestreckte Friedenshand zurückzuweisen. Frankreich, nicht Deutschland ist Englands Feind, und die Flotte nur gegen Japans Großmachtgelüste gerichtet.
Ganz Europa, Japan, Russland, Amerika, alle fühlen sich provoziert und beleidigt. Auch daheim ist man die kaiserlichen Solotänze jetzt gründlich leid. Tadel und Buhs giften aus allen Ecken; der Reichstag berät und fordert Wilhelm auf, das allseits unerwünschte Gewese fortan gefälligst einzustellen.
Dabei hat sich der Kaiser diesmal sogar an die Regeln gehalten und das Interview zur Prüfung vorgelegt. Weil aber weder der Kanzler noch seine Stellvertreter erreichbar waren, gibt ein kleiner Beamter den Text kurzerhand frei. Dumm gelaufen! Sehr bedauerlich. Echt Pech! In Wirklichkeit hat der Reichskanzler das Interview sehr wohl gekannt und einfach durchgewunken. Vielleicht, um Wilhelm eine bittere, nachhaltige Lektion zu erteilen.
Falls das die Absicht war, ist sie nur halb gelungen. Der Kaiser leidet heftig unter der Demütigung. Tief gekränkt bietet er den Rücktritt an, schmollt und grollt, rappelt sich schließlich doch wieder auf und führt sein Volk weitere zehn Jahre herrlichen Zeiten entgegen.