7. Juli 1881 In Rom erscheint das erste Abenteuer von Pinocchio
Lügen haben kurze Beine und wenn man lügt, biegen sich die Balken. Alles Quatsch. Was aber stimmt, bei zumindest einem wird die Nase beim Lügen länger. Mit der lügenden Holzpuppe Pinocchio schafft der italienische Schriftsteller Carlo Collidi einen Klassiker der Kinderliteratur. Autor: Sebastian Kirschner
07. Juli
Freitag, 07. Juli 2023
Autor(in): Sebastian Kirschner
Sprecher(in): Caroline Ebner
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Mit der Wahrheit, das ist so eine Sache: Viele beanspruchen sie für sich. Doch wenn wir mal ehrlich sind, dann hat meist jeder eine eigene Version davon. Ein Streit ist oft vorprogrammiert, und sei es nur im Kleinen: "Du hast mir die halbe Pizza weggegessen! Wie kannst du nur!" - "Aber nein, ich habe dir doch extra die Hälfte übrig gelassen!". Im Großen, vor Gericht etwa, verdienen etliche sogar ihr Geld mit Versionen von Wahrheit. Und das, wo es doch nur EINE Wahrheit gibt.
Wahrheiten und lange Nasen
Die eigentliche Wahrheit ist vielleicht: Lügen sind viel ehrlicher. Denn sie sind nicht einfach nur Lügen. Freilich wird für Geld, Macht und Liebe gelogen und betrogen was das Zeug hält. Aber es wird eben auch mal geschummelt, weil einem das Glück partout nicht hold sein will. Es wird ein anderer veralbert, weil wir uns einen Spaß erlauben. Es wird eine kleine Notlüge bemüht, weil wir die Hausaufgaben verbummelt oder den Hochzeitstag vergessen haben.
Trotzdem: Der Ruf der Lüge ist schlecht. Lügen haben kurze Beine, heißt es. Und: Sie haben eine lange Nase. Das zumindest seit dem 7. Juli 1881. Da erscheint nämlich in einer Wochenzeitung für Kinder die erste Episode von Pinocchio. Der Auftakt zu den Abenteuern einer Marionette, die heute angeblich fast so weit verbreitet sind wie die Bibel und der Koran.
Ein richtiger Junge sein ...
Und selbst wer die Geschichte von Pinocchio nicht kennt, der hat oft zumindest schon von dem Holzbengel gehört, dem die Nase wächst, wann immer er lügt.
In seiner Heimat Italien ist der kleine notorische Schwindler nicht wegzudenken. Lügner werden als Pinocchio bezeichnet; besonders Politiker, wenn sie mal wieder Märchen erzählen und die Bürger an der Nase herumführen. Dabei ging es Pinocchios Schöpfer Carlo Collodi wohl nicht darum, das Lügen zu verniedlichen.
In der Geschichte landet ein sprechendes Holzscheit beim Holzschnitzer Geppetto. Der ist begeistert und schnitzt eine Figur daraus. Kaum fertig erwacht sein Pinocchio, sein Holzköpfchen, zum Leben und reißt aus. Unterwegs gerät der Hampelmann ständig in Schwierigkeiten, wird noch vorher von Menschen und Tieren gewarnt - aber vergeblich. Immer wieder verstickt er sich in seine Lügen und Flunkereien und verrät sich durch seine wachsende Nase. Immer wieder fasst Pinocchio gute Vorsätze, die er im nächsten Moment wieder bricht. Dabei will er doch nur eines: ein ganz normaler Junge sein.
So gesehen ist Pinocchio eine Metapher auf uns alle: Im Grunde gut und nichts Böses im Sinn. Aber er gerät oft in Versuchung, weil er sich etwa mit den falschen Leuten abgibt. Und er hofft, sich mit seinen Schwindeleien aus seinen misslichen Lagen zu befreien. Quasi das bisschen Flunkern, das in uns allen steckt. Das den Ruf der Lüge zumindest ein bisschen besser macht.
Nun könnte man der Vollständigkeit halber noch erwähnen: Pinocchio schafft es. Er kommt am Ende vom Lügen ab und wird ein richtiger Junge. - Könnte man. Aber das wäre doch wieder eine andere Version der Wahrheit.