19. Dezember 1902 Die Postkutschenräuberin Pearl Hart fängt neu an
Sie wurde berühmt, weil sie sie der einzig bekannte weibliche Outlaw war, der eine Postkutsche überfiel – und zugleich war es wohl der letzte Überfall auf eine Postkutsche. Pearl Heart wurde zu einer Legende des Wilden Westens, die sich in Comics, Filmen und Songs widerspiegelte. Autorin: Ulrike Rückert
19. Dezember
Dienstag, 19. Dezember 2023
Autor(in): Ulrike Rückert
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Zwischen Felshängen und Kakteen rumpelte die Postkutsche durch die Schlucht in den Bergen von Arizona. Hinter einer Biegung blockierten zwei Männer mit Revolvern den Weg. Sie nahmen den Passagieren ihr Geld und eine goldene Uhr ab. Der Bezirkssheriff verfolgte die Räuber ein paar Tage lang. Als er sie fand, lagen sie schlafend im Gestrüpp. Die Festnahme war ein Klacks.
Ein "modernes Weib"
An dem Überfall im Mai 1899 war nichts Spektakuläres - außer dass sich einer der Banditen als Frau entpuppte. Ihr Name war Pearl Hart. Den kannte bald jeder zwischen San Francisco und New York. Reporter und Fotografen belagerten das Gefängnis von Tucson. Pearl Hart gab Interviews und posierte revolverschwingend in ihrer Räuberkluft. Besucher kamen in Scharen. Sie verkaufte Fotos von sich für fünfzig Cent das Stück.
Amerika war dabei, sich ein romantisch verklärtes Bild vom "Wilden Westen" zu malen, in Groschenheften und Zeitungsserien, Romanen, Biographien und Bühnenstücken. Gleichzeitig war Frauenemanzipation ein heiß diskutiertes Thema, Frauen verlangten das Wahlrecht und drangen in Männerdomänen ein.
"Pearl ist ein modernes Weib", schrieb ein deutschsprachiges Blatt, "bestrebt, die Gleichberechtigung mit dem sogenannten stärkeren Geschlechte auch im Räuberhandwerk zu bethätigen." Niemals, verkündete Pearl Hart, werde sie sich einem Gesetz beugen, bei dessen Schaffung ihr Geschlecht keine Mitsprache hatte.
Eine Legende des Wilden Westens
Den Reportern erzählte sie ihre Geschichte: von der Tochter aus gutem Hause, die als naive Unschuld ihr Herz an den falschen Mann verlor und mit ihm durchbrannte, dann vor seinen Misshandlungen in den Westen floh, sich als Köchin durchschlug und als Goldgräberin versuchte. Die Postkutsche hätte sie überfallen, weil sie Geld brauchte, um zu ihrer sterbenden Mutter zu eilen.
Das ging dem Publikum zu Herzen. Die Frauenzeitschrift Cosmopolitan widmete ihr fünf Seiten. Gutgekleidete Damen mit kleinen Mädchen an der Hand erbaten Autogramme von der berühmten Banditin. Als sie aus dem Gefängnis ausbrach, drückte ihr die Nation die Daumen. Doch der Ruhm war ihr Verhängnis: ein Sheriff erkannte sie nach den Fotos in Cosmopolitan. Ihren letzten großen Auftritt hatte sie vor Gericht. Sie wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
Pearl Harts Lebensbeichte war ein Märchen - die Wahrheit war brutaler. Sie war in krasser Armut aufgewachsen, mit einem gewalttätigen Vater, und hatte schon als Teenager Jahre in Besserungsanstalten und im Gefängnis verbracht. In den Kupferminenstädten und Goldgräberlagern von Arizona war sie als morphiumsüchtige Prostituierte bekannt. Im übrigen: Pearl Hart war auch nicht ihr richtiger Name.
Drei Jahre saß sie ab, dann wurde sie entlassen und in einen Zug nach Osten gesetzt. Die Presse schrieb, sie werde zur Bühne gehen. Am 19. Dezember 1902 war sie in Kansas City angekommen, da lebten ihre Schwestern. Sie legte den Namen Pearl Hart ab, eröffnete ein Zigarrengeschäft und verschwand aus dem Blick der Öffentlichkeit.
Vergessen war sie nicht. Die Postkutschenräuberin Pearl Hart wurde eine der Legenden des Wilden Westens.