12. Mai 1973 Psycho-Floss bricht zu bizarrem Sozialexperiment auf
Das "größte Gruppenexperiment der modernen Verhaltensforschung" hatte der Anthropologe Santiago Genovés angekündigt, als das sogenannte Sex-Floss im Mai 1973 in See stach. Autorin: Prisca Straub
12. Mai
Mittwoch, 12. Mai 2021
Autor(in): Prisca Straub
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Das Experiment beginnt als gefundenes Fressen für die Boulevardpresse: fünf halbnackte Frauen und fünf Männer in Badehosen - zusammengepfercht auf einem winzigen Floß, bereit zur Überfahrt quer durch den Atlantik. Der Studienleiter spricht großspurig "vom größten Gruppenexperiment in der Geschichte der modernen Verhaltensforschung". - Für die Medien ist es einfach nur "das Sex-Floß".
Genau das hatte Santiago Genovés tatsächlich auch im Sinn gehabt - und für sein Experiment eine, wie er fand, möglichst "explosive" Mischung zusammengestellt. Mit dabei - eine Ärztin aus Israel, ein Fotograf aus Japan, eine französische Sporttaucherin, ein Priester aus Angola - und natürlich Genovés selbst. Bald würden die Crew-Mitglieder gierig übereinander herfallen oder - zumindest aufeinander losgehen. Da war sich der knapp 50-jährige Anthropologe sicher. Um die Männer zu reizen, hatte er das Kommando für die weite Überfahrt von Gran Canaria bis nach Mexiko ganz bewusst einer Frau erteilt: Kapitänin Ingrid aus Schweden. Sie war die einzige, die Ahnung von Seefahrt hatte.
Offen einsehbare Freilufttoilette
Auch an der Versuchsanlage hatte Genovés lange herumgetüftelt: ein zwölf mal sieben Meter großes Floß, eine einzige Kajüte. Als die "Acali" am 12. Mai 1973 auf den offenen Atlantik hinausschaukelt, nehmen sich die Teilnehmer das erste Mal in Augenschein. Mit etwas Glück würden günstige Strömungen und der Passatwind alle miteinander in rund drei Monaten ans Ziel bringen. - Santiago Genovés notiert akribisch, wer sich in der offen einsehbaren Freilufttoilette besonders geniert. Sexuelle Kontakte gibt es vorerst keine - "schade" - der meterhohe Wellengang macht die unerfahrene Mannschaft jämmerlich seekrank.
"Wen kannst Du am wenigsten leiden?"
"Nur Geduld“ - Doch im Lauf der kommenden Wochen gerät Genovés zunehmend unter Druck. Er hat "bahnbrechende Erkenntnisse" über Eifersucht, Exzesse und Aggression versprochen. Doch während der gesamten 101 Tage auf See kommt es weder zu Sex-Dramen, noch zu erwähnenswerten Auseinandersetzungen. Im Gegenteil: Die Mannschaft versteht sich blendend. Dem Einzigen, dem das überhaupt nicht behagt - ist Genovés selbst.
Er beginnt Unfrieden zu sähen, die Teilnehmer mit Fragebögen gegeneinander auszuspielen: "Wen kannst Du auf der Acali am wenigsten leiden?" - Fazit nach wenigen Wochen: Der Typ ist ein Tyrann! Ein Schwätzer! Er nervt!
Als dem Floß schließlich auf dem letzten Teil der Reise ein waschechter Hurrikan droht - wird es an Bord tatsächlich gefährlich. Die schwedische Skipperin will auf einer Karibik-Insel notlanden. Genovés sieht sein Experiment scheitern - und setzt die Kapitänin kurzerhand ab.
Der Sturm zog vorbei. Das Floß erreichte Mexiko. Über 40 Jahre später treffen sich einige der Teilnehmer wieder. Ein Film soll die Geschehnisse noch einmal rekonstruieren. Wie war das damals? Hatten sie nicht ernsthaft überlegt, den tyrannischen Genovés einfach umzubringen? Über Bord zu werfen? Der Gedanke lag böse über dem Floß. Der Aggressionsforscher hatte großes Glück, dass er am Ende keiner Gewalttat zum Opfer gefallen ist.