6. November 1923 Schiesser begründet Feinripp-Imperium
Unterhosen? Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Thema. Abhilfe schaffte Schiesser, nicht zuletzt mit der legendären Qualität Feinripp. Autor: Simon Demmelhuber
06. November
Freitag, 06. November 2020
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Krista Posch
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Um Himmels willen! Er wird doch nicht! Nicht schon wieder!
Doch, doch! Er wird! Er wird nicht nur, er muss! Wie sollten wir sonst kapieren, wie Ödipus, Hamlet und König Lear ticken, wie begreifen, wie sie gestrickt sind? Erst wenn die Helden, Schurken, Lumpen und Loser im Leibchen auf der Bühne stehen, geht uns die wahre Webart auf. Was Sophokles, Schiller, Shakespeare und Co wirklich sagen wollen, bringt letztlich nur eins ans Licht: Die Unterhose.
Die Deutungswucht der Unterhose
Freilich nicht jede! Es muss schon Feinripp sein! Nur Feinripp fegt das falsche Wesen fort. Nur Feinripp sondert Schein vom Sein und lässt uns ahnen: Hier geht´s ans Eingemachte, hier wird ausgepackt und aufgeräumt, jetzt kommt restlos alles auf den Tisch.
Aber nicht nur das Regietheater zieht existenzielle Deutungswucht aus Slip und Schlüpfer. Auch Museumskuratoren und Ausstellungsmacher spüren dem versteckten Drunter neuerdings mit enthüllender Neugier nach und fördern Erstaunliches zutage. Die Erkenntnis zum Beispiel, dass untenrum noch vor anderthalb Jahrhunderten von Anstand und Sitte beileibe keine Rede war. Die Schöße eines langen Hemds im Schritt nach vorne hochgezogen und an der Hose festgeknöpft, das musste genügen. Was wiederum den bösen Verdacht nahelegt, dass Geistesheroen wie Goethe und Schiller die deutsche Leitkultur mehr oder minder freischwingend schufen.
Was den Musen recht war, blieb dem modernen Krieg nicht länger billig. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich wärmende Unterkleidung zur Steigerung der Kampfkraft und Hebung soldatischer Reinlichkeit zunächst auf dem Schlachtfeld durch. Gesunkene Baumwollpreise, Rundstrickmaschinen und Massenfertigung machten die fronterprobte Leibwäsche wenig später alltagstauglich. Erschwinglich waren industriell gefertigte Trikotagen nun geworden, aber ach, der Tragekomfort! Was Mann bis zum Beginn der 1920er Jahre zwischen Haut und Hose packte, scheuerte erbärmlich, kratzte, wetzte und kringelte wie ein ausgeleierter Akkordeonbalg.
grip and feel
Abhilfe tat not. Und Abhilfe kam: Am 6. November 1923 schreibt man in Radolfszell am Bodensee Kulturgeschichte. An diesem bemerkenswerten Dienstag präsentiert die Trikotwäschefabrik Schiesser eine Weltneuheit: feingestricktes, elastisches Unterzeug aus flauschig weichem Baumwollgarn. Der Feinripp war geboren, ein Wirkwarenwunder mit bis dato ungekanntem grip and feel: Schmiegsam, dehnbar, atmungsaktiv, saugfähig, pflegeleicht, sitzt wie angegossen, nix zwickt, nix zwackt.
Weshalb die textile Großtat im Lauf der Zeit zum Inbegriff erosbereinigter Spießigkeit absinken konnte, warum Boxershorts und ballermannhafte Stringpeinlichkeiten ihr den Rang abliefen, was sie zuletzt zum Werkzeug dramaturgischer Seelen- und Zustandsanalyse prädestinierte - all das mögen künftige Kulturhistoriker genauer ergründen. Wir halten uns in dieser Sache vornehm bedeckt und rutschen allenfalls ein bisschen tiefer in den Theatersitz, wenn Hamlet in schonungsloser Nabelschau am Wams zu nesteln beginnt.
Um Himmels willen, er wird doch nicht…