20. Dezember 1923 Thomas Mann sieht Gespenster
Okkultismus, Spiritismus, Séancen waren en vogue, damals in den 1920er Jahren, auch in München. Und so kam es, dass der bürgerliche Autor Thomas Mann eines Abends Gespenster sah. Autor: Simon Demmelhuber
20. Dezember
Freitag, 20. Dezember 2019
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Darf er das? Diesem kläglichen Drang die Zügel lassen? Darf er dieser Schwäche kampflos nachgeben, ohne alles zu verraten, was höhere Gesittung, Geist, Haltung heißt? Thomas Mann steckt in der Klemme. Ausgerechnet ihn, den kultivierten Stilaristokraten, die fleischgewordene Bügelfalte, hat das Okkulte gepackt. Das ist läppisch, peinlich, aber der Kitzel juckt gewaltig. Und nun auch noch das: Freiherr von Schrenck-Notzing, der Münchner Geisterbaron, bittet zur spiritistischen Sitzung. Die Séancen des umstrittenen Parapsychologen sind begehrte Gesellschaftsereignisse, streng wissenschaftlich immerhin, und dünsten doch ein Rüchlein aus, das den Dichter tief verschreckt. Andererseits reizt das Rätselhafte schier unwiderstehlich.
Starmedium Willi
Was also tun? Der Autor ziert und spreizt sich, und kapituliert schließlich doch. Halb gezogen, halb hingesunken, betritt er am Abend des 20. Dezember 1923 Schrenck-Notzings Palais am Karolinenplatz. In der Bibliothek hat sich ein handverlesener Zirkel von Gelehrten, Künstlern, Ärzten eingefunden. Man raucht, schwatzt, stärkt sich an geistigen Getränken. Das Deckenlicht erlischt, und Willi, das derzeitige Starmedium des Spukprofessors, nimmt im Schummer rot verhüllter Lämpchen vor dem Publikum Platz. Um Betrug und mechanische Machenschaften auszuschließen, werden zwei Kontrolleure bestellt. Einer von ihnen ist Thomas Mann. Hart vor Willi sitzend, klemmt er Füße und Knie des Mediums zwischen seine Schenkel, ein zweiter Aufpasser überwacht Arme und Hände.
Die Trance kommt rasch. Das Medium zuckt, keucht, stößt, malmt mit dem Becken, als würde er zeugen und gebären zugleich. Drei zähe Stunden ringt Willi, aber nichts tut sich, nichts zeigt sich, nichts erscheint. Erst als Schrenck-Notzing sich anschickt, die gescheiterte Sitzung abzubrechen, geschieht das Unmögliche: Ein Taschentuch hebt sich vom Boden, flattert wie ein betrunkener Schmetterling, steigt, sinkt, steigt erneut. Da ist kein Faden, kein Draht. Etwas führt das Tuch, knüllt, schüttelt, trägt es - von innen! Wie eine Hand wirkt die Bewegung, nein, keine Hand, eine Kralle, knöchern, kindlich klein.
Und dann, einen verstörenden Augenblick lang, schimmert weißlich, verkümmert und verwischt, ein Armstumpf im rötlichen Dunkel, unzweifelhaft jener Klaue zugehörig, die den schwebenden Fetzen stützte.
"Frohes Fest euch allen!"
Das ist zu viel! Das ist schlüpfriges Terrain, gärender Sumpf! Thomas Mann spürt, wie sein Magen krampft, wie sich seine Vernunft gegen das Undenkbare stemmt. Doch alles rutscht, schlingert, schlittert. Diese Klaue da, diese obszöne okkulte Gaukelei zieht ihn hinein ins Dämonische, ins abstoßend Zweideutige, hinein in die Strudel verbotener und doch so verlockender Abseitigkeiten. Das nimmt kein gutes Ende. Schluss damit.
Zum Glück hat nicht nur der von Übelkeit angewehte Dichter genug von den Zumutungen der Geisterwelt. Auch Willi ist erschöpft, erwacht aus der Trance, versucht zu sprechen. Was er mit rauer Zunge lallt, ist kaum verständlich, aber Thomas Mann bringt sein Ohr nah an den flüsternden Mund und übermittelt so die Botschaft des ausgepumpten Mediums: "Gute Nacht und ein frohes Fest euch allen!"