10. Mai 1872 Victoria Woodhull soll US-Präsidentin werden
Victoria Woodhull hatte Kontakte zum Jenseits, an die Börse, ins Rotlichtmilieu, und sie wollte ein freieres Amerika für alle. Am 10. Mai 1872 wurde sie zur US-Präsidentschaftskandidatin gekürt. Autorin: Brigitte Kohn
10. Mai
Donnerstag, 10. Mai 2018
Autor(in): Brigitte Kohn
Sprecher(in): Caroline Ebner
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Mehr als 2.000 Jahre nach seinem Ableben fand Demosthenes, griechischer Redner und Staatsmann, eine neue Aufgabe: als Berater der ersten amerikanischen Präsidentschaftskandidatin. Nein, nicht Hillary Clinton, die war gar nicht die erste. Demosthenes unterstützte eine Frau namens Victoria Woodhull, und zwar bereits im Jahre 1872, indem er ihr im Traum erschien. Mehrmals und in der festen Überzeugung, dass sie auf die öffentliche Bühne und in die Weltpolitik gehörte. Wohin auch sonst.
Förderlicher Beistand aus dem Jenseits
Nein, Victoria Woodhull war nicht verrückt. Sie sah Geister, aber das taten damals viele. Der Spiritismus gehörte zu den amerikanischen Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts einfach dazu. Und in Victoria Woodhulls Fall erwies sich der Beistand aus dem Jenseits als ausgesprochen förderlich. Bevor sie in die Politik ging, hatte sie es schon zur Herausgeberin einer viel gelesenen fortschrittlichen Zeitschrift gebracht. Und zur ersten Brokerin an der New Yorker Wall Street ebenfalls.
Börsenspekulation hatten ihr die Geister beigebracht, behauptete sie zumindest. Außerdem hatte sie seit früher Jugend als Wahrsagerin gearbeitet, weil sie nämlich aus einer Familie stammte, die im Planwagen herumfuhr und zweifelhafte Medizin und Prophezeiungen aller Art verkaufte. Da war es doch kein Problem, so ein paar Aktienkurse richtig einzuschätzen. Und auch ihre guten Kontakte ins gehobene Rotlichtmilieu, in dem die New Yorker Finanzwelt verkehrte, erwiesen sich als hilfreich.
Victoria Woodhull war eine gute Netzwerkerin, würde man heute sagen. Und nachdem sie beschlossen hatte, die Welt zu verändern, suchte sie Kontakt zu fortschrittlichen Denkern, die ähnliche Ziele hatten. Sie war für das Frauenwahlrecht und für die freie Liebe und gegen die Todesstrafe und für die Sklavenbefreiung und für die Arbeiterbewegung: für eine freiere Welt für alle.
Lange Zeit ignoriert
Es gelang ihr, die Gründung einer Partei namens "Equal Rights Party" voranzutreiben, auf deren Gründungsversammlung am 10. Mai 1872 sich das ganze Spektrum des alternativen Amerika traf. Die Leute schwenkten rote Fahnen oder Transparente mit Bibelsprüchen. Schwarze und Weiße waren da und Männer und Frauen und solche, und solche, die eher uneindeutig in Erscheinung traten, wie einem Beobachter auffiel. Die 34jährige Victoria Woodhull wurde zur Präsidentschaftskandidatin gekürt. Stolz verteilte sie Autogrammkarten mit Unterschrift und dem Zusatz: Future Presidentess. Und das in einer Zeit, in der Frauen nicht einmal das passive Wahlrecht hatten.
Dass Victoria mächtige Gegner hatte, denen es bald gelang, sie aus der Politik zu verdrängen, ist nicht weiter verwunderlich. Dass aber auch die feministische Geschichtsschreibung sie lange Zeit ignorierte, ist sehr schade. Geschichtsschreiber aller Art kommen meist aus dem Bildungsbürgertum und übersehen manchmal Menschen, die anders geprägt sind als sie selbst. In den vergangenen Jahren hat Victoria Woodhull endlich ein Comeback erlebt. Das ist gut, denn sie hat immer noch viel zu sagen.