10. Juni 2013 Weltjugendstiltag
Die Ära des Jugendstil hatte nur eine kurze Blütezeit um die Wende zum 20. Jahrhundert. Er war ein Protest gegen die nüchterne Zweckorientierung des Industriezeitalters und ein Versuch, Massenproduktion und die Ästhetik des Märchenhaften unter einen Hut zu bringen. Die Art Nouveau, der Modern Style, des Fin de Siècle. Autorin: Brigitte Kohn
10. Juni
Freitag, 10. Juni 2022
Autor(in): Brigitte Kohn
Sprecher(in): Irina Wanka
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Schon vor langer Zeit hat die Menschheit beschlossen, die Tage nicht einfach so ins Land ziehen zu lassen, sondern sie irgendwem oder irgendwas zu widmen zum Zwecke des Gedenkens. Dieses Prinzip ist heute beliebter denn je und die Gedenktage werden immer mehr, nur, dass sie jetzt anders heißen, awareness days, Bewusstseinstage, zum Beispiel, oder auch Aktionstage.
Geschärftes Bewusstsein
Folgendes ruft uns der Kalender der Vereinten Nationen allein im Juni ins Bewusstsein: Flüchtlinge, Blutspenden, Yoga, Eltern, Ozeane, Witwen, Asteroiden, Fahrräder, Wüsten, Kindesmissbrauch und einiges mehr. Der 10. Juni ist noch leer, und wir könnten unser Bewusstsein ungeschärft in den Tag hineinbaumeln lassen, gäbe es nicht noch mehr Interessenverbände, denen etwas am Herzen liegt. Am 10. Juni ist auch was los, da ist nämlich Weltjugendstiltag. Den hat im Jahr 2013 eine ungarische Kunstzeitschrift ins Leben gerufen, anlässlich des 10. Todestages der Architekten Antoni Gaudi und Ödön Lechner. Ihre Gebäude prunken mit geschwungenen Linien, Farben und Ornamenten, typisch Jugendstil also. Diese kurze Epoche erblühte europaweit um die Wende zum 20. Jahrhundert und war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs schon wieder vorbei.
Der Jugendstil prägte nicht nur die Architektur, sondern auch die Malerei, Schmuck und Gebrauchsgegenstände. Er war eine umfassende Revolte gegen das nüchterne Industriezeitalter, ein Rückgriff auf die Ästhetik des Märchenhaften und Erotischen. Nymphen und Nixen winden sich mit Haaren wie Schlangen um massenhaft produzierte Obstschalen und Lampenschirme. Ja, der Siegeszug des Jugendstils war paradoxerweise nur möglich, weil es die industrialisierte Massenproduktion schon gab.
Und auch das elektrische Licht, das die Jugendstil-Designer begeistert durch ihre stilisierten Ornamente leuchten ließen. Kritiker bemängelten schon ziemlich früh, dass die Grenze zum Kitsch hier sehr ins Fließen geriet. Sie verspotteten die geschwungenen Linien als „gereizte Bandwürmer“ oder als "Seelennudeln" und sprachen von einer dekadenten, snobistischen Ornamenthölle. Christian Morgenstern schrieb ein Gedicht über einen Stuhl, der Geist und Geschmack, aber keineswegs das Sitzfleisch des Ästheten verwöhnt.
Dekorativ und modern
In den 1920er Jahren lief das Design der Bauhaus Schule unter dem Motto "Form follows function" dem Jugendstil den Rang ab. Der Zweck gab nun den Ausschlag, Nixen und Medusenhäupter mussten weichen, beide Weltkriege verleideten der Menschheit die Freude an Schnörkeln. Erst in der Flower-Power-Zeit der 1960er Jahre kam die Freude am Jugendstil zurück und hat sich seither gehalten. Vielleicht, weil er dekorativ und trotzdem modern wirkt. Seine Ornamente haben einen starken Zug ins Abstrakte, Natur wird stilisiert, nicht nachgeahmt, das Material, die Farbe, die Fläche, die Linie sprechen für sich. Originale Jugendstil-Werke sind selten, begehrt und teuer, und die Industrie bringt beständig kostengünstige Repliken auf den Markt, um die Nachfrage zu decken.