Bayern 2 - radioTexte


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Daniela Dröscher "Lügen über meine Mutter"

Daniela Dröscher erzählt in "Lügen über meine Mutter" von einer Kindheit, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige Frau zu dick? Ja, findet ihr Ehemann. Und dem ist sie ausgesetzt. Autorin Daniela Dröscher im Gespräch mit Judith Heitkamp über eine 80er Jahre-Kindheit. Lesung: Xenia Tiling

Von: Judith Heitkamp

Stand: 05.12.2022 14:02 Uhr | Archiv

Daniela Dröscher | Bild: Carolin Saage

"Wieviel wiegst du inzwischen? So viel wie in der Schwangerschaft? Oder noch mehr?" Für den Vater steht es fest: diese, seine Frau ist zu dick, so dick, dass er sich mit ihr nicht blicken lassen kann, so dick, dass sein Selbstbewusstsein darunter leidet, so dick, dass sie keine weiteren Ansprüche stellen darf. "'Deine eigene Tochter schämt sich für Dich.' … Meine Mutter sah mich an. Ihr Gesicht war halb flehentlich, halb drohend, um dann ins Letztere zu kippen. 'Stimmt das? Das du dich schämst?' 'Aber nein.' Ich antwortete schnell, ohne wirklich nachzudenken."

Für den Vater ist klar, dass seine Frau zu dick ist. Und je länger wir den in diesem Framing gefangenen Figuren folgen, um so weniger ist klar, was das eigentlich sein könnte. Daniela Dröscher macht in ihrem Roman "Lügen über meine Mutter" an keiner Stelle eine Kilogrammangabe. Aber das Kopfkino arbeitet – und die Bilder, die beim Lesen entstehen, wechseln – mal ist die Kritik monströs, mal die Person. Sehr bewusst arbeitet die Autorin mit solchen Projektionen – "Einladung an die Leser und Leserinnen" nennt sie das, was automatisch eigene Fragen entstehen lässt. Wie war das in meiner Kindheit? Wie wurde der Körper meiner Mutter bewertet? "Wir wissen das ja, selbst Kleidergrößen sind relativ, manchmal ist eine M eine L … – mir war es sehr wichtig, das ganz stark zu machen, das Relationale in diesem Text", sagt Dröscher.

Keine einzige Kiloangabe

Während für den Vater das Thema: "Du bist zu dick!" seine eigenen Probleme bündelt – oder unsichtbar macht, je nachdem – braucht die Mutter alle Kräfte, um sich gegen die permanente Abwertung zu schützen. Erst der Abstand, der durch Schreiben, und Lesen, entsteht, macht deutlich, was für ein giftiger Cocktail in dieser Familie brodelt, – und damit, aus Sicht der Erzählerin, in ihrer Kindheit. Beide Eltern kämpfen in den 80er Jahren um den sozialen Aufstieg, beide kämpfen mit den alten Rollenzuschreibungen, die zwar in anderen Milieus längst angezählt sind, aber noch nicht auf dem Dorf im Hunsrück. Die ganze Last der Sorge-Arbeit für Kinder, Großeltern, Harmonie liegt selbstverständlich auf einem einzigen, weiblichen Paar Schultern. "Sie arbeitet unablässig, die ganze Zeit – wie viele Mütter dieser Generation", sagt Dröscher, "ich hatte das Gefühl, das hat noch gar nicht die Bühne, die es eigentlich haben müsste."

Lügen darf man nicht, lernt das Kind Ela, das ist bei Strafe verboten, aber die Wahrheit sagen ihre Eltern ja offensichtlich auch nicht. Nicht-die-Wahrheit-sagen ist sogar ganz unvermeidbar als Überlebensstrategie. Das betont der Titel, der sich an einen Roman John Burnsides anlehnt: Lügen – oder Wahrheiten – über die Mutter gibt es vielfältige, nebeneinander. Erst recht in einer Autofiktion, in der mit allen Mitteln des Erzählens nach Wahrheit gesucht wird. "In einer anderen Version dieses Textes setzt meine Mutter die Tankstelle in Brand", heißt es lapidar an einer Stelle.

Ein fesselnder Roman voller Sprach- und Alltags-Details

Daniela Dröschers Roman demonstriert die beeindruckenden Möglichkeiten einer Literatur mit klarem Bekenntnis zur Gebundenheit des eigenen Blicks. Sie kommt den Zusammenhängen schreibend und suchend und erfindend auf die Spur. Bei ziemlich schonungslosem Umgang mit sich selbst. In ihrem Buch "Zeige deine Klasse" thematisierte die vor Jahren mit dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnete Dröscher, geschult an Didier Eribon und Annie Ernaux, die Scham des Aufsteigerkindes Daniela über die eigene Herkunft. "Lügen über meine Mutter" steigt noch viel tiefer in die psychologischen Zusammenhänge von Begriffen wie Klasse und Rolle ein, ohne dass das jemals akademisch würde. Einmal aus Sicht des miterlebenden, um Freibad, Freundin, Aufmerksamkeit kämpfenden Kindes, einmal aus Sicht der analysierenden erwachsenen Erzählerin. "Jawohl, Unglück!", heißt es in so einem Einschub. "Ihr Unglück lag meine ganze Kindheit und Jugend über wie Blei auf meinen Schultern. Deshalb ist das hier nicht nur ihre, es ist auch meine Geschichte."

Und schließlich ist "Lügen über meine Mutter" ein fesselnder Zeit-Roman voller liebevoll gefundener Sprach- und Alltagdetails, der nebenbei auch erzählt, wie neue Selbstverständlichkeiten sich ins Leben einschreiben. Wer in den 80er Jahren aufgewachsen ist, wird vieles wiederfinden. Vom Ablaugen alter Bauernmöbel, das eine Zeitlang so modern war, über das Auftauchen eines "Gebäcks namens Quiche" bis zum Denver-Clan.

Daniela Dröscher:
Lügen über meine Mutter
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 448 Seiten.

Nachzuhören bis zum 17.12. in unserem Podcast "Lesungen" im Podcast-Center des BR.


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