Existenzialismus: Freiheit als Strafe Das Thema Das Thema
Die Kernaussage einer speziellen Philosophie-Richtung in wenigen Worten zu umschreiben, ist ebenso unmöglich, wie einfach: "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt." Die wohl bekannteste These des französischen Philosophen Jean-Paul Sartres scheint auf den ersten Blick klar verständlich und mit ihr die Definition eine der heute immer noch populärsten Philosophien knapp auf den Punkt gebracht: die des Existenzialismus. Allerdings erscheint es widersprüchlich, den Begriff "Freiheit" in Zusammenhang mit dem negativ behafteten Verb "verurteilen" zu setzen. Interpretiert man Sartres Aussage aber zunächst wortwörtlich, relativiert sich der scheinbare Gegensatz. Ein Verurteilter ist im juristischen Sinne eine Person, gegen die ein Strafgericht ein Urteil verhängt hat. Dieses Urteil kann - je nach Schwere des Vergehens – in Form einer Geldbuße, eines Strafarrests oder einer Freiheitsstrafe gesprochen worden sein. In der Sprache Sartres müsste man folglich formulieren: "Der Mensch ist zur Freiheitsstrafe verurteilt." Damit wären dann die Begriffe "Freiheit" und "Verurteilung" in ein und denselben - logischen - Kontext gebracht; die Semantik dieses Satzes steht aber konträr zum ursprünglich Gemeinten. Denn die Freiheit als solche, und nicht der Entzug derselben, ist nach Sartres Meinung eine Strafe. Es stellt sich also die Frage, warum philosophisch gesehen Freiheit nicht immer ein zu erstrebendes Ideal ist, und ob der Entzug dieser Freiheit wirklich nur als Strafe zu verstehen ist.
Was ist Freiheit?
Freiheit heißt, individuell die Möglichkeit zu haben, ohne Zwang oder Druck von außen zwischen zwei oder mehreren Handlungsoptionen entscheiden und agieren zu können. Freiheit umschreibt demnach eine Selbstbestimmung - eine Autonomie - des Menschen. So weit die Theorie. Aber selbst heute, im 21. Jahrhundert, sind wir weit davon entfernt, Freiheit in diesem Sinne leben zu können, obwohl sie politisch in den meisten westlichen, demokratisch regierten Ländern, als ein Grundrecht im Gesetz fest verankert ist. Presse-, Meinungs-, Glaubens-, Rede- oder Handlungsfreiheit sind de facto gegeben. Und trotzdem wird selbst ein Nicht-Philosoph z.B. in Bezug auf seine persönliche Handlungsfreiheit angesprochen mit einem einschränkenden "Ja, aber..." die Frage beantworten, ob er denn frei in seinem Tun und Handeln sei. Sind wir tatsächlich frei und haben wir die Möglichkeit, ohne Zwang und den Einfluss äußerer Gegebenheiten das zu tun, wonach uns gerade der Sinn steht? Die Antwort ist mit Sicherheit ein klares Nein. Die pragmatische Erklärung dazu - nämlich, weil wir gesellschaftlichen und sozialen Ordnungen unterworfen sind - ist bereits existenzialistisch.
Freiheit als schicksalhafte Gegebenheit
Übersetzt bedeutet das aus dem Lateinischen stammende "exsistere" heraustreten, zum Vorschein kommen. Auf den Menschen bezogen heißt es, wir entstehen bzw. sind durch und mit unserer Geburt entstanden, wir sind da. Allerdings hat kein Mensch vor seinem Entstehen die Möglichkeit, aktiv zu entscheiden, wo und in welchem Umfeld er geboren werden möchte. Der erste Eingriff in die persönliche Freiheit ist somit pränatal von anderen vollzogen worden. Es entspricht jedoch nicht der Idee des Existenzialismus zu glauben, dass der Mensch in (s)ein Schicksal hineingeboren wird, um sich diesem dann für alle Zeit zu ergeben. Denn unabhängig von den äußeren Einflüssen und gesellschaftlichen Strukturen ist jedem Menschen die Freiheit von Geburt an gegeben. Sie ist nicht etwa wie die menschliche Persönlichkeit ein Wesenszug oder eine Eigenschaft, die sich im Laufe des Lebens entwickelt. Freiheit gehört im existenzialistischen Verständnis zum Mensch-Sein. Die philosophische Gleichung heißt somit:
zu sein = frei sein = Freiheit
Einer der ersten Philosophen, der sich mit dem Frei-Sein beschäftigte und mit seinen Theorien die späteren Begründer des Existenzialismus beeinflusste, war der Däne Sören Kierkegaard.
Wurzeln des Existenzialismus
Der Ursprung des Existenzialismus - wenn er denn überhaupt an einer Person oder an eine historische Zeit auszumachen ist - liegt in der theologischen Philosophie. Kierkegaard dachte nämlich bereits existenzialistisch, als er Geschichten der Bibel hinterfragte und neu interpretierte. So versteht er die Entstehungsgeschichte des Buches Genesis, genauer den Sündenfall Adams, als die Quelle des menschlichen Seins: In dem von Gott ausgesprochenen Verbot, den Apfel vom Baum der Erkenntnis nicht essen zu dürfen, sieht Kierkegaard für den Menschen den ersten freiheitlichen Akt. Es steht Adam - stellvertretend für alle nachfolgenden Geschlechter - offen, vom Apfel zu beißen oder nicht. Er kann frei entscheiden. Und doch wird er in seiner Freiheit eingeschränkt durch das Verbot Gottes. Es liegt an Adam, eine Entscheidung zu treffen und dadurch die Verantwortung für sich und andere, respektive für Eva, und für sein Tun (oder auch Nicht-Tun) zu übernehmen. Für Sören Kierkegaard spielt in diesem Entscheidungskonflikt die Verunsicherung eine entscheidende Rolle, die schließlich in Angst gipfelt: Der Mensch will etwas, aber die Angst hält ihn davon ab, es zu tun. Die Freiheit des Menschen bereitet ihm selbst Angst. Die moderne Psychologie kennt dieses Phänomen als so genannte Lustangst.
Die Frage nach dem Sinn im Leben
Dass der Existenzialismus in der heutigen Zeit vom Atheismus geprägt ist, steht in keinem Widerspruch zum theologischen Ansatz Kierkegaards. Bei Sören Kierkegaard als Theologen gibt es einen Gott. Dieser Gott hat den Menschen erschaffen, was per se schon die Frage nach dem Sinn im menschlichen Leben beantwortet: Weil es Gott gefallen hat. Nun hat aber dieser Gott dem Menschen für sein weiteres Leben einen freien Willen geschenkt und damit die Freiheit, Dinge selbst zu entscheiden. Für Adam war die Freiheit vom Baum der Erkenntnis essen zu können eine erdrückende Last, mit der alle nachfolgenden Generationen zu kämpfen hatten und immer haben werden.
Die Tatsache, dass der Mensch "existiert", philosophisch umschrieben also "da ist", wirft zwangsläufig die Frage nach den Gründen dieses scheinbar Unausweichlichem auf: "Warum sind wir? Was ist der Sinn?" Hier setzt der Existenzialismus, wie ihn unter anderem die französischen Philosophen Albert Camus, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre weiterentwickelt und definiert haben, an und klammert dabei Gott als Einfluss nehmende Größe aus. Entscheidend für ihren stark prägenden und entscheidenden Einfluss auf den Existenzialismus ist der historische Hintergrund genannter Philosophen, nämlich zwei Weltkriege mit- und überlebt zu haben. Die bekannten Werke beispielsweise Jean-Paul Sartres "Der Ekel", "Das Sein und das Nichts" oder auch "Ist der Existenzialismus ein Humanismus" sind in der Zeit zwischen 1938 und 1945 entstanden.
Der Weg des Existenzialismus ins 20. Jahrhundert
Freiheit, wie sie heute in vielen Ländern der Welt gelebt wird (und gelebt werden kann), steckt historisch gesehen noch in den Kinderschuhen. Erst das Ende des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundenen neuen politischen Ordnungen, die Umsetzung von Demokratie und neue Wertevorstellungen, haben besonders in Europa das Verständnis von Freiheit geprägt. Erstmals konnte Freiheit tatsächlich ausgelebt werden. Zumindest war das die vorherrschende Meinung. Viele - besonders Intellektuelle - sahen das aber anders. Gerade der Krieg hatte sie gelehrt, Herrschaftsformen kritisch zu sehen und allgemeine Ordnungen in Frage zu stellen. Nach ihrem Verständnis kann individueller Wille und persönliche Freiheit nicht in einen Konsens mit einer Masse gebracht werden. Absolute Werte sind nicht mit dem Existenzialisten vereinbar, denn das Individuum bestimmt in seinen Augen sein eigenes Da-Sein. In der Philosophie heißt das: Das Subjekt bestimmt sein Dasein. Diese These lässt natürlich - wie die gesamte Philosophie überhaupt - viele Interpretationen zu. Gerade die Proklamation, der Mensch, das Individuum, könne sich keiner bestehenden Ordnung anpassen oder gar unterwerfen, ist im Bereich der Kunst auf fruchtbaren Boden gefallen.
Existenzialismus im Alltag
Trotz aller Individualität geht es dem Existenzialismus nicht um eine egoistische Gesellschaft. Das Gegenteil ist der Fall: Jeder Mensch ist vom anderen Menschen abhängig; das liegt schon in der Natur der Sache, denn die Welt - auch die des Existenzialisten - ist und wird von seinen Mitmenschen geprägt und beeinflusst. So kann und muss der Mensch Verantwortung für sein Leben übernehmen, entscheidet sich daher für oder gegen bestimme Dinge, sucht nach eigenen Normen für sein Leben, ohne dabei aber andere und die Gemeinschaft zu schädigen. Dass diese Form der Philosophie derart populär ist und Einzug in unseren Alltag erhalten hat, liegt in ihrer Nähe zur Praxis: Hier begegnet uns der Existenzialismus in Form von ‚Leben in wilder Ehe’, Zusammenleben in so genannten Patchwork-Familien oder in individuellen Selbstfindungsprozessen, kurz: Das Recht, seine persönliche Freiheit selbst zu wählen und zu leben – frei nach dem Franzosen Jean-Jacques Rousseau: "Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will."