Von der Euphorie in den Abgrund
Geschichte | HS, RS, Gy |
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Am 1. August 1914 ruft Kaiser Wilhelm sein Volk zu den Waffen, der Erste Weltkrieg beginnt. Vier Jahre dauert das Inferno, vier Jahre brüllen die Kanonen, wird geschlachtet, gemordet, gestorben. Danach ist nichts mehr, wie es war.
Als der Erste Weltkrieg im August 1914 ausbricht, glauben die meisten Deutschen an einen schnellen Sieg. "Auf einen Kaffee nach Paris" oder "Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause" steht in Kreideschrift auf Eisenbahnwagons, die Millionen von Soldaten an die Front transportieren. Auf tausendfach vervielfältigen Postkarten stürmen deutsche Feldsoldaten gegen den "Erbfeind", treiben heillos fliehende "Franzmänner" mit aufgepflanztem Bajonett vor sich her. Die ersten Wochen sind ein nationales Großbesäufnis erster Klasse. Die Propagandawelle rollt, das Hurra-Gebrüll überschlägt sich auf den Straßen, in Leitartikeln und Feuilletons, der versprochene "Blitzsieg" scheint in greifbarer Nähe.
Vier Jahre Stellungskrieg: Das große Sterben an der Westfront
Die Euphorie hält nicht lange. Bereits im September 1914 stoppt eine unerwartete Großoffensive französischer und britischer Truppen den deutschen Vormarsch an der Marne. Vier sinnlose, quälende Jahre lang bewegt sich die Front im Westen von nun an nur noch um wenige Hundert Meter hin und her. Der Spaziergang nach Paris versackt im Schlamm und Dreck der Schützengräben. Beide Seiten schanzen sich ein, in verheerenden Massenschlachten lassen Abermillionen meist blutjunger Soldaten ihr Leben auf dem "Feld der Ehre". Sie werden verstümmelt, geblendet, zerfetzt, von Granaten und Artilleriegeschossen zerhackt, verenden im Stacheldraht, verlieren im Trommelfeuer ihren Verstand, werden von Panzern zermalmt oder ersticken im Gas.
Von Tannenberg bis Brest-Litowsk: Der Bewegungskrieg im Osten
An der Ostfront bleibt der Krieg in Bewegung. Die Truppen der Mittelmächte dringen in nordöstlicher Richtung bis Estland und in südöstlicher Richtung bis tief in die Ukraine vor. Gestorben wird auch hier, an Kugeln, Bomben und Schrapnellen, am Hunger, an der Kälte, an Seuchen und am Fleckfieber. Die Zahl der Toten lässt sich nur schätzen: Etwa fünf Millionen Soldaten aller Seiten fallen auf den Schlachtfeldern, ungleich mehr werden verwundet. Nachdem die Oktoberrevolution den Zaren vertrieben hat, muss die bolschewistische Regierung ihre Machtposition stabilisieren und die innerrussischen Verhältnisse neu ordnen. Damit ist Ende 1917 der Weg frei für Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten. Am 3. März 1918 unterzeichnen beide Seiten in Brest-Litowsk einen Separatfrieden: Der Krieg im Osten ist beendet.
Die Stimmung kippt: Das Schlachten muss ein Ende finden
Im Westen dauert das Wüten und Metzeln unvermindert an. Obwohl der Krieg seit Jahren festgefahren ist, hoffen die Generäle noch immer auf einen "Siegfrieden" über Frankreich und seine Verbündeten. Mit dem Kriegseintritt der USA im Februar 1917 verschiebt sich das Kräfteverhältnis zugunsten der Alliierten. Aber nicht nur an der Front, sondern auch im Reich wendet sich das Blatt. In der Bevölkerung ist vom Hurra-Patriotismus der ersten Kriegswochen nichts mehr übrig. Hunger und Brennstoffmangel haben die Menschen ausgelaugt, Millionen von Toten, an Leib und Seele verkrüppelte Heimkehrer und ungeschönte Frontberichte haben für Ernüchterung gesorgt. Der nationale Rausch ist verflogen, die Deutschen sind kriegsmüde und der Propagandaphrasen, Durchhalteparolen, Entbehrungen längst überdrüssig geworden.
Die Waffen schweigen und eine Epoche dankt ab
Obwohl bürgerliche und linksdemokratische Kräfte immer drängender eine sofortige Waffenruhe und den Abschluss eines Verständigungsfriedens fordern, bestehen rechtskonservative Kreise und die Generalität trotz Streiks und wachsender Proteste auf einer Forstsetzung der Kämpfe. Erst als im Oktober 1918 Kieler Matrosen meutern und das Auslaufen der Hochseeflotte zu einer letzten "ehrenhaften" Offensive verweigern, erkennt auch die Oberste Heeresleitung den Ernst der Lage. Um eine drohende Revolution zu verhindern, sind sie zu Waffenstillstandsverhandlungen und sogar zur Opferung der Monarchie bereit. Am 9.November überstürzen sich schließlich die Ereignisse: der SPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann ruft die Republik aus, Reichskanzler Max von Baden verkündet eigenmächtig den Thronverzicht des Kaisers, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert übernimmt die Reichsgeschäfte. Zwei Tage später, am 11. November 1918, unterzeichnet der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger als Vertreter der deutschen Regierung das Waffenstillstandsabkommen in Compiègne bei Paris. Nach vier Jahren Krieg schweigen die Waffen an allen Fronten. Endlich herrscht Frieden, aber seine Zeit ist befristet. Schon zwanzig Jahre später bricht das Inferno erneut aus, grausamer und gewalttätiger denn je.