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Restauration statt Fortschritt?

Von: Simon Demmelhuber / Sendung: Thomas Grasberger

Stand: 08.06.2015 | Archiv

Der Wiener Kongress: Restauration statt Fortschritt?

GeschichteMS, RS, Gy

Im Herbst 1814 beginnt das große Aufräumen. Napoleon ist besiegt, der Wiener Kongress soll Europa ordnen und Frieden schaffen. Was bleibt unterm Strich: Eine reaktionäre "Rolle rückwärts" oder eine Sternstunde der Diplomatie?

Der Kaiser tritt ab und alle Fragen sind offen: Nach 20 Jahren der Unruhe und Umwälzung, Plünderung und Zerstörung, nach 20 Jahren permanenter Kriege in Italien, Spanien, Deutschland, Österreich, Belgien, Polen und Russland, nach drei Millionen Toten und Abermillionen Verletzter und Verstümmelter ist Napoleon besiegt. Sein Abgang hinterlässt tiefe Spuren und Wunden: Er hat die Landkarte Europas mit der Brechstange seiner Grande Armée radikal umgekrempelt, einen Papst abgesetzt, Throne und Dynastien gestürzt, er hat den Kirchenstaat liquidiert, das Heilige Römische Reich aufgelöst, hat Grenzen verschoben, Fürstentümer und Königreiche neu gegründet. 1812, auf dem Höhepunkt seiner Macht, ist das französische Kaiserreich durch Eroberungen, Annexionen und Bündnisse die unbestrittene Vormacht des Kontinents. Ein Jahr später, nach dem Debakel des Russlandfeldzugs, hat sich der Nimbus seiner Unbesiegbarkeit verbraucht. In ganz Europa stehen die Völker auf, um das Joch des "Ungeheuers" abzuschütteln. Im Oktober 1813 leitet die Völkerschlacht von Leipzig den Untergang ein. Dann geht es Schlag auf Schlag: Am 31. März 1814 stehen Österreich, Großbritannien, Russland und Preußen als Sieger im besetzten Paris, am 2. April erklärt der Senat den Kaiser für abgesetzt, am 12. April dankt er ab, am 30. Mai diktieren die Siegermächte einen für Frankreich glimpflichen "Friedens- und Freundschafts-Tractat".

Napoleons ungeordneter Nachlass

Das Pariser Abkommen regelt Frankreichs Zukunft: Alle napoleonischen Eroberungen sind nichtig, die Grenzen von 1792 wiederhergestellt, mit Ludwig XVIII. sitzt erneut ein Bourbone auf dem Thron. Die wichtigste Frage bleibt jedoch ungeklärt: was geschieht mit dem europäischen Erbe Napoleons, was wird aus den territorialen Verschiebungen und staatlichen Umbrüchen? Vielleicht noch drängender ist ein Anliegen, das in der Präambel des Pariser Vertrags deutlich zum Ausdruck kommt:

"Das Verlangen, den Erschütterungen Europa's und den Leiden der Völker durch einen gründlichen, auf eine billige Vertheilung der Macht gebauten, und in seinen Bedingungen die Bürgschaft seiner Dauer darbiethenden Frieden, ein Ziel zu setzen."

Präambel

Hoffnung auf Frieden und Sicherheit

Europa will Frieden. Einen dauerhaften, soliden Frieden, der nicht mehr durch hegemoniale Alleingänge einzelner Staaten gefährdet ist, einen Frieden, der Kooperation und Kollegialität über Konkurrenz und Konfrontation stellt, einen Frieden, der Ruhe und Ordnung garantiert, einen Frieden, der revolutionäre Umtriebe durch zwischenstaatliche Bündnisse und ein gefestigtes Landesregiment unterbindet. Aber in welcher Form, auf welcher Grundlage und durch welches Gremium lässt sich diese allseits erstrebte "billige Vertheilung der Macht" errichten? Den Weg und die Mittel legen die Siegermächte in Artikel 37 des Pariser Friedens fest: "Binnen zwey Monathen sollen alle […] in dem gegenwärtigen Kriege begriffene Mächte Bevollmächtigte nach Wien schicken, um auf einem allgemeinen Congreß die Maßregeln, welche die Dispositionen des gegenwärtigen Tractates vervollständigen sollen, festzusetzen."

Ein europäischer Ordnungsrahmen entsteht

Ganz so schnell geht es nicht. Erst im Herbst 1814 versammeln sich die Bevollmächtigten von mehr als 200 europäischen Staaten, Körperschaften und Städten in Wien. Neun Monate werden sie Akten studieren, Statistiken erstellen, Konzepte schreiben, verhandeln, feilschen und taktieren. Allerdings nicht im Plenum. Als Vollversammlung tritt der Kongress nur einmal zur Unterzeichnung der Schlussakte zusammen. Das mühsame Hauptgeschäft der europäischen Neuordnung erledigen spezialisierte Fachausschüsse. Die großen Linien geben Fünfer- und Achtergremien vor, in denen sich die Führer der Großmächte exklusiv abstimmen. Oberster Dirigent dieses Konzerts ist der österreichische Staatskanzler Clemens von Metternich, ein geschickter Diplomat und überzeugter Europäer, der wie kein anderer den Geist des Kongresses verkörpert. Ihm stehen mit Lord Castlereagh, dem Vertreter Großbritanniens, den preußischen Gesandten Wilhelm von Humboldt und Karl August von Hardenberg sowie dem Franzosen Charles Maurice de Talleyrand besonnene Männer zur Seite, die sich in wesentlichen Punkten einig sind: Ein dauerhafter Friede ist nur durch ein ausbalanciertes Mächtegleichgewicht zu erzielen. Die Neuordnung Europas soll daher sicherstellen, dass künftig kein Land allein gegen seine Nachbarn losschlagen und erneut einen Hegemonialkrieg auslösen kann. Die Stabilität dieser Mächtebalance steht und fällt mit starken Monarchien, die auf rechtmäßiger Herrschaft gründen, untereinander solidarisch handeln und im Inneren genug Autorität besitzen, um revolutionäre Umtriebe einzudämmen. Ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, Volkssouveränität und Nationalstaatlichkeit bleibt für die aristokratischen Neugestalter Europas außerhalb jeder Debatte. Vor allem Metternich sperrt sich gegen den Gedanken, Politik auf nationaler Ebene zu organisieren, weil er das unkontrollierbare, zerstörerische Potenzial nationaler Kleinteiligkeit und Feindseligkeiten fürchtet. So ist es kein Wunder, dass der Kongress die Deutsche Frage nicht durch die Schaffung eines geeinten Nationalstaates, sondern in Form eines lockeren Bundes souveräner Einzelstaaten regelt, der allen hegemonialen Bestrebungen im Herzen Europas einen Riegel vorschieben soll.

Streitigkeiten, Zankäpfel, Minenfelder

Trotz aller zur Schau gestellten Harmonie und feierlich beschworenen Konsensbereitschaft flackern immer wieder erbitterte Konflikte auf. Hauptsächlich zwei Fragen stellen den Kongress auf eine harte Zerreißprobe: Völlig offen ist lange Zeit, wie es mit dem unter Russland, Österreich und Preußen aufgeteilte Polen weitergeht. Soll es als Staat wiederhergestellt werden? Oder fügt sich der Kongress dem Willen des Zaren, der ganz Polen für Russland reklamiert? Und was geschieht mit Sachsen, das 1813 mit Napoleon gegen die Koalition kämpfte und nun von Preußen als Kriegsbeute eingefordert wird? Die Streitigkeiten ziehen sich ergebnislos hin, zuletzt droht Zar Nikolaus offen mit Krieg. Buchstäblich in letzter Minute einigen sich die Kontrahenten auf einen Kompromiss: Preußen begnügt sich mit dem nördlichen Teil Sachsens, bekommt jedoch Posen, Thorn, die Rheinprovinz, Westfalen und Schwedisch-Pommern zugesprochen. Im Gegenzug sichert sich Russland, das auf die Annexion ganz Polens verzichtet, die Herrschaft über das als Königreich neu gegründete Herzogtum Warschau.

Vive l'Empereur!

Während der Kongress in Wien den Nachlass Napoleons ordnet, plant der entmachtete Kaiser auf Elba seine Wiederauferstehung. Am 1. März 1815 landet er mit einer 1.100 Mann starken Leibgarde bei Cannes und setzt zum Marsch auf Paris an. Am 13. März reagiert der Kongress zunächst mit der Ächtung des "Feindes und Ruhestörers der Welt". Von solchen Verbalattacken lässt sich Napoleon nicht beeindrucken. Nachdem sich immer größere Teile der Bourbonenarmee seiner Truppe angeschlossen haben, zieht er am 20. März in der Hauptstadt ein, die Ludwig XVIII. tags zuvor heimlich verlassen hat. Unverzüglich erklärt er sämtliche Maßnahmen der bourbonischen Restauration für ungültig und wirbt Soldaten an. Die Antwort der Großmächte bleibt nicht aus: Am 25.März stellen England, Russland, Preußen und Österreich ein Heer unter Wellington in Waffen.

Wellington marschiert, der Kongress verhandelt

In Wien laufen derweil die Verhandlungen unter Hochdruck weiter. Am 8. Juni 1815 unterzeichnen die acht bevollmächtigten Signatarstaaten mit der Kongressakte ein Abschlussdokument, das die Resultate der Unterhandlungen bündelt. Zehn Tage später, am 18. Juni 1815, sind die Hundert Tage der zweiten Herrschaft Napoleons endgültig gezählt. In einer blutigen Schlacht, die 65.000 Tote und Verletzte kostet, schlagen Wellington und Blücher die französische Armee bei Waterloo. Vier Tage nach diesem Debakel erzwingt die Abgeordnetenkammer die Abdankung des Kaisers. Er wird auf die ferne Atlantikinsel St. Helena verbannt, in Europa kehren Ordnung, Ruhe und Frieden ein.

Reaktionäre Rolle rückwärts oder diplomatische Sternstunde?

Aber trifft das wirklich zu? Trug der Kongress tatsächlich dazu bei, Europa nach den Erschütterungen durch Revolutionen und Eroberungskriege zu stabilisieren? Ist es den in Wien versammelten Monarchen, Ministern und Gesandten gelungen, ein Gleichgewicht der Mächte zu installieren, das zumindest vierzig Jahre lang Kriege und hegemoniale Raubzüge verhinderte? Oder ist es nicht eher so, dass eine rückständige, aristokratisch-reaktionäre Restauration triumphiert, die Freiheit knebelt und so die Radikalisierung patriotischer Strömungen provoziert? Haben Metternich und seine Mitgestalter ihre historische Chance versäumt, die nationalen Kräfte durch moderate Erneuerungen, durch bürgerliche Partizipationsangebote in eine evolutionäre Entwicklung einzubinden und damit den Grund für die Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts gelegt?

Einerseits, andererseits und sowohl als auch

Unstrittig ist, dass Metternich und seine Kollegen mit dem Prinzip der Legitimität ein monarchisches System zementieren, das freiheitliche Ideen unterdrückt und eine demokratisch-konstitutionelle Entwicklung auf Jahrzehnte hin ausbremst. Aus der Warte der vielen zornigen jungen Männer, die 1813 ihr Leben für die Freiheit einsetzten und ein geeintes Deutschland erträumten, war der Kongress sicherlich ein Fiasko. Festzuhalten ist allerdings auch, dass die patriotische Bewegung von Anfang an aggressiv nationalstolzen und vor allem antifranzösischen Affekten massiven Vorschub leistet, die, wie bereits Heinrich Heine beklagte, Züge eines "militanten Teutomanismus" und "wilden Fremdenhasses" trugen. Ob der Wiener Kongress diese zerstörerischen Kräfte zumindest zeitweilig bändigen konnte oder durch ihre gewaltsame Unterdrückung im Gegenteil sogar schürte, bleibt eine offene Frage und Gegenstand heftiger Debatten.


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