Zunge, Zähne, Lippen
Mensch, Natur, Umwelt | RS, Gy |
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Chemielabor, Kommunikationszentrum, Energieversorger, Keimabwehr: Mund, Lippen und Zähne meistern eine Vielzahl lebenswichtiger Spezialaufgaben. Grund für eine Forschungsreise in die Wunderwelt hochsensibler Vielzweckwerkzeuge.
Ein komplexes Zusammenspiel
Die Nase ein monumentales Gebirge, Mund und Zunge monströs aufgeblasen, riesige Augen und Ohren, Hände groß wie Baggerschaufeln. Der Rest - Rumpf, Beine, Füße - nicht mehr als ein paar kümmerliche, dürre Striche. Könnte das Hirn uns zeichnen, sähen wir wohl so aus: Das groteske Zerrbild einer Missgestalt mit bizarren Fehlproportionen. Und trotzdem wäre dieser Homunculus, dieses Menschlein, keine Karikatur. Im Gegenteil: Er wäre ein ziemlich genaues Abbild dessen, wie der Kopf den Körper wahrnimmt. Denn das Gehirn "sieht" uns nur mithilfe spezieller Sinneszellen, die Umweltreize aufnehmen und als neuronale Impulse über Nervenbahnen zur Schaltzentrale schicken. Je dichter, differenzierter und vielzähliger diese Eindrücke ausfallen, desto bedeutsamer und größer erscheint dem Kopf der Körperteil, der sie sendet.
Reizbar und hypersensibel: Die Zunge als Datenlieferant
Aus der Bedeutungsperspektive des Gehirns betrachtet, sind Mund und Lippen tatsächlich wahre Informationsgiganten. Gespickt mit Sinneszellen wie kein anderes Organ, feuern sie unentwegt eine ungeheure Menge hoch aufgelöster Bewegungs-, Temperatur-, Tast- und Geschmacksdaten ab. Die Detailgenauigkeit dieser Nervenreize ist unübertroffen: So kann beispielsweise der Oberschenkel zwei räumlich getrennte, taktile Reize nur unterscheiden, wenn sie mehr als sechs Zentimeter auseinanderliegen. Da sind die Fingerspitzen schon deutlich sensibler. Sie differenzieren Reize im Abstand von zwei Millimetern. Aber auch das ist nichts im Vergleich zur Zunge. Sie ist mit derart vielen Rezeptoren überzogen, dass sie zwei Reize auch dann auseinanderhält, wenn sie nur einen halben Millimeter voneinander entfernt einwirken.
Feinabstimmung: Sprechen, Kauen, Schlucken
Die Fülle und Feinheit der Wahrnehmungen, die Zunge und Lippen dem Gehirn übermitteln, entspricht der Aufgabenvielfalt, die beide Organe bewältigen: Zum einen müssen die Bewegungen des Mundes und der Lippen beim Sprechen extrem fein angesteuert und permanent nachjustiert werden. Ohne das komplexe Zusammenspiel von Zungen- und Lippenmuskulatur, präziser Lagewahrnehmung und blitzschneller Nachführung würden wir allenfalls lallen, aber nie deutlich artikulieren oder gar singen können. Vollbeschäftigt sind Zunge, Lippen und Zähne auch bei der Nahrungsaufnahme: Speisen müssen erst aufgenommen und einbehalten, dann zerkleinert und mit Speichel zu flüssigem Brei zermalmt werden, bevor sie der Schluckreflex aus der Mundhöhle in die Speiseröhre presst. Dabei leistet die Zunge echte Schwerstarbeit: Sie drückt die Nahrung zwischen die Zähnen, steuert Speichel aus speziellen Drüsen als Schmierstoff bei, formt den verflüssigten Speisebrei und schiebt ihn schließlich in den Rachen auf "Schluckposition".
Chemielabor Mund: Warnsignale, Essanreize, Geschmacksanalyse
Noch bevor es so weit ist, hat die Zunge allerdings schon eine Reihe wichtiger Jobs erfüllt: Sie hat ertastet, ob sich gefährliche Fremdkörper wie Fischgräten oder Knochensplitter im Speisebrei befinden, sie hat die Temperatur geprüft, um ein Verbrennen des Gaumens und der Speiseröhre zu verhindern, und obendrein mithilfe unzähliger Geschmacksknospen sichergestellt, dass nur bekömmliche statt unzuträglicher oder gar gefährlicher Stoffe in den Magen gelangen. Die nötigen Warnsignale oder Essanreize stellen in der Zunge eingelagerte Sinneszellen und das Gehirn im Teamwork bereit: Was sauer schmeckt, ist möglicherweise unreif, verdorben oder zu säurehaltig, bittere Speisen können giftige Substanzen enthalten, allzu Salziges droht den Magen anzugreifen. Die Geschmacksrichtung "süß" hingegen hat reinen Empfehlungscharakter: Sie deutet auf kohlenhydrathaltige Nahrung und damit wichtige Energielieferanten hin.
Pfui Spucke: Schlechtes Image, aber Gold wert
Ein wertvolles Hilfswerkzeug für die Arbeit von Zähnen, Lippen und Zunge ist der Speichel. Als Gleit- und Schmiermittel in speziellen Zungendrüsen gebildet, stemmt er ein beachtliches Aufgabenspektrum: Er hält die Mundschleimhaut feucht, löst Geschmacksstoffe aus der Nahrung und macht sie dadurch überhaupt wahrnehmbar, er liefert Enzyme, die zerkaute Kohlenhydrate bereits im Mund zu rasch verfügbarem Zucker aufschließen, macht den Speisebrei rutschfertig,schützt Mundhöhle und Zähne vor aggressiven Stoffen in der Nahrung und unterstützt außerdem die Immunabwehr des Körpers durch keimtötende Substanzen.
Lippenbekenntnisse: Vom Lachen, Trauern und Küssen
Neben diesen "inneren" Werten haben Mund, Lippen und Zähne auch eine im Wortsinn bedeutsame Außenwirkung. Ihr konzertiertes Mienenspiel signalisiert oft deutlicher als Worte, wie es um uns steht, was wir fühlen, wie wir gestimmt sind. Und last but not least spendieren sie uns eine der schönsten Erfahrungen überhaupt: Das Küssen! Allein dafür sollten wir sie hin und wieder gebührend hochleben lassen.