Recht und Gesetz in der Bibel Das Thema
Bevor wir uns mit der eigentlichen Thematik, mit den sittlichen Normen des Alten Testamentes oder – wie man heute vielfach treffender sagt – der Hebräischen Bibel auseinandersetzen, ist es unerlässlich einen Blick auf die Entstehungsgeschichte dieser Heiligen Schrift des Christentums und des Judentums zu werfen. Eine genauere Untersuchung zeigt recht schnell, dass es sich um alles andere als ein einheitliches Buch, das sozusagen aus einem Guss geschrieben wurde, handelt.
Es ist vielmehr eine Schrift, die eine Ansammlung aus Texten des ersten vorchristlichen Jahrtausends ist. Hintergrund dieser Texte ist eine mündliche Tradition, die um Teil weit zurück in Zeiten reicht, die keine Schrift besaßen. Zudem muss beachtet werden, dass die Entstehung der Schriftkultur nicht zu einer Auslöschung mündlicher Überlieferungszusammenhänge führte. Als der Staat in Israel im Jahre 587 v. Chr. zusammenbrach, war die Bedeutung geschriebenen Wortes in Israel noch marginal. Auch lässt sich feststellen, dass in der religiösen Praxis der Menschen durchaus noch andere Götter neben Jahwe Platz fanden. Erst im Babylonischen Exil kam es zu einer Verfestigung des Monotheismus. Die Zerstörung des Tempels und der Untergang des Königtums wurden jetzt als Folge der Götzenanbetung gedeutet. Die neue Deutung der Geschichte Israels aus monotheistischer Perspektive führte schließlich auch zu einer erstarkten Rolle der schriftlichen Überlieferungen, die sich vor allem in ihrer zentralen Position im Gottesdienst niederschlug. Dass damit eine neue Ära in der entstehenden jüdischen Religion anbrach, liegt auf der Hand.
Bearbeitung der Tora - des Pentateuch
Während des Babylonischen Exils, zu dem eine große Volksgruppe gezwungen wurde, kam es auch zu der Bearbeitung der für unseren Zusammenhang interessanten Tora, die wir als die fünf Bücher Mose kennen. Durch Esra, einem Priester, kamen sie 398 nach Jerusalem. Da eine auf Pergament geschriebene Rolle nicht genug Platz für den umfangreichen Text bietet, entstanden fünf Rollen. Daher kommt auch der Name Pentateuch ( von griech. pente = fünf und teuchos = Gefäß). Die fünf Rollen des Pentateuch wurden Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium genannt. Wenn man, wie es im 17. Jahrhundert der Philosoph Baruch Spinoza tat, die Texte kritisch liest, wird schnell deutlich, dass die sogenannten fünf Bücher Mose nicht von einem Verfasser stammen können, schon gar nicht von Moses selbst. Moses ist freilich die zentrale Gestalt und prägend für alle kommenden Zeiten. Der Pentateuch spiegelt also eine lange Entwicklung wider und fand seinen Nährboden in einer Vielzahl von Überlieferungen.
Der Entstehung des Pentateuch auf der Spur: die vielen Namen Gottes
Anstoß zu dieser Erkenntnis gab zunächst die Beobachtung, dass unterschiedliche Gottesbezeichnungen verwendet wurden. So wird Gott in einem Teil der Texte mit Jahwe, in anderen Teilen aber als Elohim bezeichnet. Im 20. Jahrhundert wurde es zur allgemein anerkannten Theorie, vier zunächst selbstständige Quellen anzunehmen: 1. den Jahwisten, 2. den Elohisten, 3. die Priesterschrift und 4. den Deuteronomisten. Seit den 1970er Jahren geht man aber von einer wesentlich komplexeren Überlieferung aus. Jetzt spricht man von drei großen Überlieferungssträngen, die aber jeweils eine große Komplexität durch ihre geschichtliche Entwicklung aufweisen: Jahwistische - nichtpriesterliche Texte; priesterschriftliche Texte; deuteronomistische Texte.
Zwischenbilanz
So ist deutlich, dass es sich bei den Texten der Hebräischen Bibel, exemplarisch am Pentateuch aufgewiesen, um Texte handelt, die eine lange (besonders) mündliche und schriftliche Entwicklung aufweisen. In ihnen spiegelt sich die Entwicklung des Volkes Israel mit seiner Auseinandersetzung mit den benachbarten Völkern und deren Denken wider. Selbst das zentrale Merkmal des jüdischen Glaubens, der Glaube an nur einen Gott, musste in einer langen geschichtlichen Entwicklung bis hinein in die Königszeit erst errungen werden. So erklärt sich auch das zunächst Befremdliche an manchen Texten besonders des Pentateuchs, das moderne Leser oft als Unrecht und Gewalttätigkeit auch Gottes wahrnehmen. Unter einem solchermaßen aufgeklärten Blick zeigt sich zum Beispiel eine Erzählung wie Genesis 22,1 – 14, in der Gott Abraham zunächst dazu auffordert, seinen Sohn Isaak zu opfern und dieses Opfer schließlich doch nicht zulässt, als ein Reflex und eine Auseinandersetzung mit der im alten Orient üblichen Menschenopferpraxis.
Sittliche Normen im Bund Israels mit Gott
Die schon erwähnte Auseinandersetzung mit der altorientalischen Umwelt schlägt sich deutlich in den Normen der Tora nieder. Sprachlich wie inhaltlich sind die Ähnlichkeiten nicht zu übersehen. Es wird deutlich, dass im Pentateuch kein genuin israelitisches Recht festgehalten ist, sondern ein Recht, das sich an die Gesetze und Normen der Nachbarvölker, etwa der Mesopotamier und der Hethiter, anlehnt. Mit pädagogischer Intention werden Lebensregeln für je bestimmte Volksgruppen dargeboten. Eine im eigentlichen Sinne juristische Intention hatten diese – nach talmudischer Zählung – 613 Regeln nicht.
Das kasuistische Recht
Stilistisch benutzen die kasuistischen Rechtssätze allgemeinorientalische Formeln. Ein Beispiel hierfür ist Gen 22, 15 – 16: "Wenn jemand ein noch nicht verlobtes Mädchen verführt und bei ihm schläft, dann soll er das Brautgeld zahlen und sie zur Frau nehmen. Weigert sich aber der Vater, sie ihm zu geben, dann hat er ihm so viel zu zahlen, wie der Brautpreis für eine Jungfrau beträgt." Es wurden Fälle des allgemeinen Zusammenlebens, wie zum Beispiel Ehe, der Umgang mit Sklaven oder Körperverletzung, zusammengetragen. Bemerkenswert sind besonders die Gesetze, in denen der Jahweglaube durchscheint und darin eine spezifische Veränderung erfahren haben. Ein Blick auf Lev 17, 3 – 4 mag das Gemeinte aufhellen: "Jeder Mann aus dem Haus Israel, der innerhalb und außerhalb des Lagers ein Rind, ein Schaf oder eine Ziege schlachtet und das Tier nicht zum Eingang des Offenbarungszeltes bringt, um es dem Herrn vor seiner Wohnstätte zu opfern, dem soll es als Blutschuld angerechnet werden; er hat Blut vergossen und soll aus der Mitte seines Volkes ausgemerzt werden." Hier wird zwar beschrieben, welche Strafe auf einen Verstoß gegen ein bestimmtes Tabu steht, eine Beschreibung der Ausführung der Strafe wird allerdings nicht gegeben. Es handelt sich also eher um Bann- oder Exkommunikationsformeln aus dem kultisch-magischen Bereich.
Apodiktik
Der Ursprung der Apodiktik liegt wohl in den Weisheitstraditionen der Sippenverbände. Es handelt sich um "Lebens- und Verhaltensregeln in apodiktischer Form" (G. Fohrer). Auch hierzu ein Beispiel: "Du sollst das Recht des Armen in seinem Rechtsstreit nicht beugen. Von einem unlauteren Verfahren sollst du dich fernhalten. Wer unschuldig und im Recht ist, den bring nicht um sein Leben; denn ich spreche den Schuldigen nicht frei. Du sollst dich nicht bestechen lassen; denn Bestechung macht Sehende blind und verkehrt die Sache derer, die im Recht sind. (Ex 23,6 –8)" Es findet eine stärkere Hervorhebung des Religiösen und Sittlichen statt. Die im Prohibitiv ("du wirst nicht") oder Vetitiv ("du sollst nicht") formulierten Regeln sind kategorisch, aber ohne Strafangabe formuliert. Das für die Gemeinschaft, nicht für einen Einzelnen, Unrechte wird autoritativ formuliert. Die Person des autoritativen Sprechers macht dabei den entscheidenden Unterschied zu den Regeln und Weisungen der anderen Völker aus.
Der Dekalog als herausragendes Beispiel für apodiktische Weisungen
"Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus." Diese Präambel des Dekalogs (Ex 20,2) zeigt deutlich an, wer hier der autoritative Sprecher ist. Die Weisungen des Dekalogs werden somit theonom legitimiert. Sehr deutlich wird das Spezifikum Israels, wenn in Ex 2,5b-6 Jahwes Anspruch auf Ausschließlichkeit betont wird. Diese Beobachtung steht in einer gewissen Spannung zu der Einsicht, dass die Lebensregeln des Dekalogs, meist apodiktisch formuliert, keineswegs „vom Himmel gefallen“ oder dem Moses auf dem Berg Sinai von Gott überreicht sein können. Vielmehr liegt der Sitz im Leben dieser Weisungen in Sippe oder Stamm. Es sind einfach Regeln, die sich im Zusammenleben von Sippen oder Stämmen als für das Zusammenleben unverzichtbar herausgestellt haben. Die Präambel des Dekalogs ist also eindeutig sekundär. Dennoch ist die theonome Ausrichtung, die der Dekalog durch das Hinzufügen der Eingangsverse erfährt, nicht einfach ein Trick, um etwa diese Regeln besser durchsetzen zu können. Israel betont so vielmehr seine besondere Beziehung zu dem einen Gott. Es drückt so seine besondere Verantwortung vor Jahwe aus.
Rückblick und Konsequenz
Wie sich gezeigt hat, sind die Texte der Hebräischen Bibel in einer durchaus nicht geradlinigen Entwicklung des Volkes Israel und seiner Beziehung zu Jahwe entstanden. In vielfältiger Auseinandersetzung mit anderen altorientalischen Kulturen musste der Weg zum das Judentum prägenden Monotheismus erst mühsam errungen werden. Dass dabei viel Sperriges, für uns nicht mehr in unsere Vorstellung von Gott Integrierbares erhalten wurde, macht aber auch die Ehrlichkeit der Bibel aus. In gut jüdischer Tradition darf man auch als Christ getrost kritisch mit der Heiligen Schrift - ja sogar mit Gott! – umgehen. Dass damit jedwedem Fundamentalismus in der jüdischen oder christlichen Religion der Boden entzogen wird, ist also unmittelbar einsichtig.