Zeichen des Widerspruchs und der Befreiung
Religion | MS, RS, Gy |
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Ist das Kreuz noch zu retten? Ist es nur das sinnentleerte Logo einer Religionsgemeinde, ein verstörender Fetisch für Todesanbeter? Oder vielleicht doch das lebendige Herzstück des Christentums, ein Hoffnungsträger und wirkliches Heilsversprechen?
Zwei Linien überschneiden sich. Sie bilden ein Kreuz, eines der ältesten Symbole der Menschheit. Seit urgeschichtlichen Zeiten, lange bevor es zum Sinnbild des Christentums wurde, dient es als zeichenhafte Kurzschrift mythologischer Daseinsdeutung. Seine Kraft steckt im Schnittpunkt der Achsen: Die waagrechte Achse bildet den Horizont des Irdischen ab, den Lauf der Zeit zwischen Vergangenheit und Zukunft, die senkrechte Achse verbindet oben und unten, Himmel und Erde. Wo die Arme sich kreuzen, ist der Ort des Menschen: Aus der Erde geboren, zum Himmel strebend, steht er aufrecht zwischen Werden und Vergehen, zwischen Materie und Geist. Im Wechselspiel dieser existenziellen Verortung erkennt er sein Schicksal: Die Gegenwart als Übergang von der Geburt zum Tod und von dieser in eine andere Welt. Vom Kreis umschlossen, wird das Kreuz zum Sinnbild der zyklischen Erneuerung des Daseins, zum Kreuzrad des Lebens, das sich ohne Unterlass weiter dreht, immerfort gebiert und verschlingt.
Vom Lebenssymbol zum Todeswerkzeug
Als der Wanderrabbi Jeschua um das Jahr 30 in Jerusalem hingerichtet wird, ist die kosmologische und mythologische Dimension des Kreuzes längst verblasst. Den Römern, deren Statthalter Pilatus das Urteil gegen Jesus fällt, geht es um eine ganz andere Symbolik. Für sie ist das Kreuz eine Machtgebärde, ein Mittel der Abschreckung und Einschüchterung, eine Demonstration ihres Willens, mit Aufrührern, Unruhestiftern und Rebellen unnachgiebig aufzuräumen. Der Tod am Kreuz ist Roms grausamste Hinrichtungsart, ein qualvolles, obszön zur Schau gestelltes Sterben, das sich über Tage hinzieht und den Verurteilten jeder Würde beraubt. Die Botschaft der gemarterten Körper, der Ströme von Blut, Schweiß, Urin und Kot, des aufgerissenen Fleisches, der zerschmetterten Knochen und Todesschreie ist unmissverständlich: "Schaut genau her! Seht, riecht, hört und schmeckt es: So rechnet Rom mit seinen Feinden ab!"
Das Kreuztabu der Katakomben
Kein Wunder, dass die frühen Christen ihren Erlöser anders im Gedächtnis behalten, anders sehen und abbilden wollen. Nicht als Geschändeten, nicht als blutigen Klumpen stellen sie ihn in den Katakomben dar, sondern als verklärten Christus der Auferstehung, als guten Hirten im Glanz ewiger Jugend. Kreuzigungsszenen sind in den ersten drei Jahrhunderten durchwegs verpönt, sie dienen allenfalls Spöttern zur Verhöhnung der neuen Religion. Das Kreuz bleibt selbst für die Gläubigen ein Skandal, eine Unsäglichkeit, bedeutet Erniedrigung und Niederlage. Und zuletzt ist ja nicht der Tod die frohe Botschaft des Evangeliums, sondern das, was ihn besiegt: die Rettungstat Christi, das Versprechen des ewigen Lebens.
Ein Schandmal wird zum Siegeszeichen
Der Tag, an dem sich das Kreuz vom Stigma der Schmach zum Signum des Triumphs verkehrt, lässt sich exakt bestimmen: Am 28. Oktober 312 schlägt die Streitmacht Konstantins des Großen das überlegene Heer seines Gegners Maxentius an der Milvischen Brücke bei Rom. Der glückliche Feldherr führt den Ausgang der Schlacht auf die Himmelserscheinung eines Lichtkreuzes mit der Inschrift "in diesem Zeichen siege" zurück. Fortan geht es steil aufwärts mit dem Christentum: Der bislang verfolgte Glaube wird zur Staatsreligion, das Kreuz zum Herrschaftszeichen. Die Realität des nackten, blutigen Todes den Jesus starb, bleibt jedoch weiterhin ein Tabu. Noch Jahrhunderte lang wird der Gekreuzigte nicht in seiner erniedrigten, geschundenen Leiblichkeit, sondern als triumphierender, entrückter Himmelskönig dargestellt. Seine offenen Augen sind nicht im Todeskampf gebrochen, sondern in gelassener Ruhe auf die Ewigkeit gerichtet, die Arme segnend ausgebreitet, die Glieder des unversehrten Leibs kostbar bekleidet.
Die Schlachtbank der Erlösung
Erst das 13. Jahrhundert wagt es, die volle, ungeschönte Wucht des Todes am Kreuz zu zeigen. Die Drastik des sterbenden, blutüberströmten, schmerzhaft aufgebäumten Körpers ist Ausdruck einer Theologie, die das Kreuz als historisch einmaligen, heilbringenden Ort des freiwilligen Sühneopfers Jesu begreift: Auf dieser Schlachtbank gab er sein Leben aus freien Stücken hin, um die Menschheit von der Erbsünde reinzuwaschen. Damit der Glaube die Größe dieses Opfergangs fassen und würdigen kann, ist es unabdingbar, das Übermaß der Qualen grell vor Augen zu stellen. Der Blick aufs Hochgerüst der Erlösung soll die Seele erschüttern, den menschlichen Hochmut zerschlagen, Dankbarkeit und Demut erregen.
Das Solidaritätsversprechen eines mitleidenden Gottes
Das Entsetzen der Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts, die Schrecken der Konzentrationslager, der millionenfache Massenmord in den Gaskammern und Verbrennungsöfen leitet einen radikalen Blickwechsel ein. Die moderne Theologie ist nicht mehr bereit, das Kreuz als frommen Fetisch des Leidens, als Waschanlage der Erbschuld und Sühnewerkzeug zur Besänftigung eines beleidigten, rachsüchtigen Gottes zu verherrlichen. Die neu gewonnene Sicht sieht im Gekreuzigten statt des stellvertretend für unsere Sünden gestorbenen Heilands den mitleidenden Bruder aller Unterdrückten, Verfolgten, Erniedrigten und Gequälten dieser Welt. Aufs Kreuz von Golgota zu schauen bedeutet nun, die realen Kreuze und Gekreuzigten der Gegenwart zu erkennen. Und dieses Kreuz fordert nicht länger zur Anbetung des Leidens, sondern zu seiner Beseitigung auf. Es mahnt zum mutigen Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Willkür, Gewalt und Machtmissbrauch im Namen eines solidarischen Gottes, der sich den Scheiternden und Schwachen, nicht den Mächtigen zuwendet. Damit macht es uns frei von Angst und Zerknirschung, frei von Kleinmut und Zaghaftigkeit, frei von Verzweiflung und Duckmäusertum.