Schönheit…sie liege im Auge des Betrachters, so die landläufige Meinung. „Schöner Wohnen“ zum Beispiel, das bedeutet für jeden etwas anderes. Der Städter liebt es, morgens den Blick von der Dachterrasse über die Skyline von Downtown schweifen zu lassen und dabei einen lächerlich überteuerten Smoothie zu frühstücken. Der Landbewohnerin kann dieses ganze urbane Getue gestohlen bleiben, sie genießt lieber das zauberhaft zarte Hellblau der Hortensien im heimischen Vorgarten und zerschneidet als erste gute Tat am Morgen ein paar Schnecken. 

Es gibt allerdings Wohnsituationen, die findet niemand schön. Leben an der Autobahn etwa. Da liegt nix mehr im Auge des Betrachters, das ist einfach nur schauderhaft. Lärmpegel gesundheitsgefährdend, Feinstaubwerte ebenso.  

Hier kommt nun die Immobilienbranche ins Spiel. Sie weiß, dass Schönheit eben doch im Auge des Betrachters liegt, nämlich des Betrachters von Bautafeln. So eine Bautafel ist ein wahres Wunderwerk der Illusion. Was als laute, dunkle, mit billigen Fliesen und windigen Badarmaturen ausgestattete Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem Mehrparteienhaus an der Durchgangsstraße von Machtlham geplant ist, wird auf der Bautafel zu diesem: „Lebensqualität neu definiert – niveauvolles Wohnen in den Machtlhamer Höfen. Mit Designer-Spielplatz und Kinder-Hochbeeten“. Ohlala! Wer möchte nicht von sich behaupten, er lebe niveauvoll in den „Machtlhamer Höfen“, das klingt doch mal nach was. Niveauvoll ist zwar meist nur der Kaufpreis, aber das ist eine andere Geschichte. Und welche Wesen in einem Kinderhochbeet wachsen, möchte man sich gar nicht ausdenken. Wahrscheinlich tummeln die sich später mal auf Designer-Spielplätzen? 

Die Bautafel, sie ist geduldig. Auf ihr lässt sich alles behaupten

Kreativ auch die Beschreibungen von künftigen Bürokomplexen. „Hier entsteht ein innovativer Workspace-Hub für synergetisches Coworking“. Woohoo! Wo ist der Obstkorb, wo der Kaffee aus der Siebträgermaschine? Dass der Workspace-Hub in Wahrheit ein Großraumbüro ohne Schallisolierung, dafür mit lilafarbenem Teppichboden sein wird, bleibt vorerst das Geheimnis des Bauherrn.

Die Bautafel, sie ist geduldig. Auf ihr lässt sich alles behaupten, auch in Sachen Zeitplan: Die Fertigstellung des Bauprojekts xy sei „2026“, lernt der geneigte Betrachter. Dieses „2026“ kann sich durchaus über mehrere Jahre erstrecken, Jahrzehnte gar, wenn es sich beim Bauherrn um den Freistaat Bayern handelt und das Bauprojekt „zweite S-Bahn-Stammstrecke“ heißt. Während dessen haben die Anwohner das Vergnügen, den Baulärm zu genießen und Staub zu essen. 

Also, das nächste Mal, wenn Sie vor einer Bautafel stehen, halten Sie einen Moment inne. Schwelgen Sie in Versprechungen, lassen Sie sich die phantasievollen Formulierungen auf der Zunge zergehen und bewundern Sie die makellose Computergrafik. Denn eines ist sicher: Was auch immer am Ende gebaut wird - so schön wie auf der Bautafel wird’s wohl nicht.