Bayern 2 - Die Welt am Morgen


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Ende der Welt - Die tägliche Glosse Immer schön gegenpressen!

Die EM zeigt: Es gibt im Fußball immer wieder lästige Modeerscheinungen. Damit sind nicht pinkfarbene Trikots oder Regenbogen-Armbinden gemeint, sondern taktische Finessen und deren nervtötende Dauererklärung. Beispiele gefällig? Eine Glosse von Thomas Koppelt.

Von: Thomas Koppelt

Stand: 27.06.2024

Erinnern Sie sich noch an "Packing"? Klingt ein bisschen wie "Fracking", ist aber ungleich umweltverträglicher. Und dennoch hat uns dieser Begriff mehrere Wochen des Jahres 2016 verleidet. Bei der Fußball-EM in Frankreich wollten wir schöne Tore sehen oder wenigstens spektakuläre Fouls, stattdessen wurden mit ausufernden Statistiken, kryptischen Grafiken und mit Packing-Werten malträtiert.

Zur Erinnerung: Mit dem Packing-Wert ermittelt man die Anzahl der Gegenspieler, die ein Spieler mithilfe eines Passes oder eines Dribblings überspielt. Das macht man auch heute noch – höchst erfolgreich hinter den Kulissen, aber Gottseidank spricht man nicht mehr öffentlich darüber. Stattdessen spricht man heute über "Gegenpressing", für mich bereits jetzt das Unwort der EM 2024, noch vor dem umstrittenen "Spielermaterial".

Kaum ein Spielbericht, der noch ohne das Wort "Gegenpressing" auskommt. Kommentatoren, Experten und sonstige "Koniferen" führen es so selbstverständlich im Munde, als hätten wir alle vor dem Fernseher den Trainerschein in der Tasche. Etwas verschämt schlage ich deshalb mal nach: "Gegenpressing bezeichnet das sofortige Pressing im defensiven Umschaltmoment bei geordneter eigener Defensive durch vorausschauende Positionierungen im Ballbesitz."

Ach so! Man hätte auch einfach wie Jürgen Klinsmann von „sofortiger Ballrückeroberung“ sprechen können


Ach so! Man hätte auch einfach wie Jürgen Klinsmann von „sofortiger Ballrückeroberung“ sprechen können. Hätte hätte Fahrradkette. Apropos: Viererkette ist ein Begriff, der aufgrund seiner bildhaften Anschaulichkeit jedem einleuchtet.

Wo aber befinden sich auf dem Spielfeld die viel zitierten mysteriösen Halbräume? Warum ist es angeblich so wichtig, gegen den Ball zu arbeiten? Wäre es nicht besser, man würde mit ihm arbeiten? Was ist so falsch an der falschen Zehn? Wohin kippt der abkippende Sechser? Wohin fließt die fluide Neun? Und überhaupt: Welche Rolle spielt der inverse Flügelstürmer für die Offensivfluidität?

Fragen über Fragen. Fußball ist die Synthese von Sport, Wissenschaft und Philosophie. Schon Richard Golz, einst Torwart des SC Freiburg hat seinerzeit erklärt: "Vor lauter Philosophieren über Schopenhauer kommen wir gar nicht mehr zum Trainieren."

Fußball rührt an tiefe Wahrheiten. Dass der Ball rund ist, ist beispielsweise Grundvoraussetzung für die Attraktivität des Ballsports. "In Würfelform wäre er nicht halb so populär geworden", das erkannte schon Loriot. Dass ein Spiel hingegen 90 Minuten dauert, das haben die Kroaten umsonst gehofft. Fußball ist komplex.

Jens Lehmann hat einmal eingeräumt, kurz nach Spielende habe er noch gar nicht die Intelligenz, um das Spiel zu beurteilen. Ich muss mit Helmut Schön sagen: Da geh ich ganz mit ihm Chloroform!


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