Ende der Welt - Die tägliche Glosse Zentralfriedhof
Paris hat seinen Eiffelturm, London die Towerbridge, München das Oktoberfest, und in Wien besucht man am besten: den Zentralfriedhof. Der wird dieser Tage 150 Jahre alt. Eine Geburtstagsglosse für einen Friedhof von Severin Groebner.
Heute, am 30.10.2024, findet die für Wien und damit auch die restliche Welt wichtigste Geburtstagsfeier von überhaupt statt. Heute wird der Wiener Zentralfriedhof 150 Jahre alt. Um zu verstehen, was der Zentralfriedhof für den Wiener - und damit die Welt - ist, muß man folgendes verstehen: Wenn der Bayer einmal erleben darf, daß an einem Tag der FC Bayern die Championsleague, den Pokal und die Meisterschaft gewinnt, dazu im favoriserten Biergarten durch einen technischen Fehler im Abrechnungssystem plötzlich Freibier ausgeschenkt wird und obendrein seine alte Schulliebe plötzlich zu ihm sagt: „Magst no auffekumman auf an Kaffee?“ dann ist er wohl erüllt: Sein Lebenstraum. Aber ganz ehrlich, wie oft passiert sowas schon.
Da hat’s der Wiener leichter. Sein Lebenstraum erfüllt sich, wenn das Leben vorbei ist. Denn am End’ wartet die höchste Form des Daseins: Die scheene Leich’. „Das Leben ist a Schinderei/ Drum samma froh, jetzt ist’s vorbei!“ So lautet ein uraltes Wienerlied, das ich so eben erfunden habe, aber das zweifelsfrei zeigt: der Tod ist für die Wiener keine Bedrohung, sondern eine Belohnung.
Endlich sagen die Kolleginnen und Kollegen, die einem Jahr und Tag nur Hackln ins Kreuz und Stöcke zwischen die Beine geworfen haben: „Das war ein guter! Respekt!“ und sind ehrlich traurig, denn jetzt müssen sie sich jemanden neuen suchen, dem sie auf die Nerven gehen können. Die Familie weint aufrichtige Tränen der Trauer, denn jetzt muß sie selbst Ihr Geld verdienen.
Nur die Friedhofverwaltung freut sich. Wieder einer mehr. Denn durch das Begräbnis auf dem „Zentrö“ (wie der Zentralfriedhof im Volksmund heißt) ist man in Wien endlich angekommen. Kaum liegt man unter der Erde, explodiert die Anzahl der guten Freunde, die man gehabt haben soll.
Nicht dass man sich verlauft, wenn man mal nicht mehr ist.
Was der Hades, das Reich der Schatten, für die griechische Antike ist, ist der Zentralfriedhof für Wien: Das vorher bestimmte Ziel. Doch im Gegensatz zur griechischen Unterwelt muß man nicht ein Ausnahmetalent wie Odysseus sein, um vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums dorthin zu gelangen, nein, man kann mit der Straßenbahn hinfahren. Mit der Linie 71, vulgo dem 71er. Das weiß jedes Kind in Wien. Deshalb ist auch die Formulierung „er hat den 71er g’nommen“ eine der schönsten Umschreibungen für das Ableben eines Mitbürgers.
Aber es gibt auch andere Gründe, um zum „Zentrö“ zu fahren. Denn so wie der Münchner gerne am Wochenende mal zu den nahegelegen Seen fährt, macht sich der Wiener in seiner Freizeit in Richtung Friedhof auf. Vielleicht um die Umgebung der letzten Bleibesätte mal zu erkunden. Nicht dass man sich verlauft, wenn man mal nicht mehr ist.
Vor 50 Jahren, zum 100. Geburtstag, hat Wolfgang Ambros das Lied „Es lebe der Zentrafriedhof“ geschrieben und nur Aussenstehenden fällt das Paradoxon im Titel des Liedes auf. Für den Wiener ist es ein lebendiger Friedhof dagegen eine völlig natürliche Ausage. Oder wie sagt man so schön: Der Wiener Zentralfriedhof - halb so groß wie Bielefeld, aber doppelt so lebendig.
Also: Auch wenn diese Kolumne das „Ende der Welt“ heißt… ein Blick auf den Zentralfriedhof zeigt: Das Ende kann auch ganz gemütlich sein. Schließlich gibt’s nebenan eins der besten Schnitzlrestaurants der Stadt.
Haaaalllooooooo!