Total lokal Von Menschen, die der mobilen Gesellschaft trotzen
Kilometerweit zum Arbeitsplatz, am Wochenende kurz mit dem Flieger in den Süden: Die "mobile Gesellschaft" ist immer in Bewegung. Doch es gibt Menschen, die sich ihr entziehen. Harald Grill hat sie gesucht – und gefunden.
Gestern bin ich heimgekehrt in mein Heimatdorf Wald im Falkensteiner Vorwald. Ich hatte ein Wanderwochenende in der Fränkischen Schweiz verbracht. Und weil ich die Langsamkeit mag, hab ich während der Heimreise in Nürnberg zwei Stunden Pause eingelegt und einen kleinen Stadtrundgang gemacht – bis zur Wöhrder Wiese und wieder zurück zum Hauptbahnhof.
Wir fahren in die Ferne – und die Ferne kommt zu uns
Noch heute klingt die Musik der drei Straßenmusiker in meinem Kopf nach, denen ich in der Fußgängerzone zugehört hatte. Drei Herren in gesetztem Alter. Sie haben mir erzählt, dass sie aus Russland und der Ukraine stammen. Da hab ich mir gedacht: Wir fahren nicht nur in die Ferne, die Ferne kommt auch zu uns. Wenn wir uns öffnen und zuhören, können wir unsere Heimat mit der ihren vergleichen und kommen der Ferne näher ohne selber fort zu müssen.
Das Dorf Wald – das Zentrum meiner Welt
Daheim, beim Spaziergang in meinem Heimatdorf, denke ich mir auf einmal: Hier taugt es mir doch, warum bin ich überhaupt weg gewesen? Vom Ortsrand aus kann ich mein Dorf gut überblicken. Das Zentrum meiner Welt. 30 Kilometer nach Cham, 30 nach Regensburg, 30 nach Schwandorf. 500 Kilometer bis Berlin, 500 Kilometer bis Wien, 500 bis Zürich.
Eigentlich sind es zwei Orte, die im Laufe des vergangenen Jahrhunderts zusammengewachsen sind: Das Dorf Wald mit der Schule, der Kirche und dem Friedhof, und das Dorf Roßbach – dort standen früher das Wirtshaus, der Bahnhof und die Steinbrüche im Mittelpunkt. Das ist vorbei: Heute gibt es da nur noch den Supermarkt, den Hosenverkauf der Jeansfabrik, den Blumenladen, den Getränkemarkt, den Arzt, ein Sportgeschäft und davor viele Parkplätze. Die meisten Menschen müssen oder wollen ja dauernd unterwegs sein.
90 Jahre alt – und nie weit herumgekommen
Es gibt auch andere. Gleich hier ums Eck wohnt eine ältere Frau. Sie hat ihr Leben lang in Roßbach gelebt und ist nie weit herumgekommen. Über 90 Jahre ist sie schon. Es ist ihr lieber, wenn ich ihren Namen nicht nenne. Sie wolle sich nicht wichtigmachen vor den anderen im Dorf, sagt sie. Dabei hat sie eine beachtliche Lebensleistung vorzuweisen.
"D Eltern ham a kloane Landwirtschaft ghabt und da hat ma vo Kind auf mitarbatn mejssn. Unser Hausaufgab hammer meistens auf'd Nacht gmacht, obwohl mia uns mia eigentlich net schwer glernt ham. Und d Schul is in Wald gwen. Und da samma halt mit de Holzschouh ummeganga, wenns grengt hat. Wenns warm war, da samma barfuaß ganga. A halbe Stund. Mia ham mit n trockna Brot in d Schul geh mejssn, für uns hats koa Semmel gebn, obwohls bloß a Fünferl kost hat. Unser Muatta hat scho Broud bacha und i selber aa. Mit ungefähr 16 Jahr hab ja i scho s erste Broud bacha. Dann hat ma scho im Stall mitgholfa. Mit 13, 14 Jahr hob i s Melka glernt, weil d Muatter nimmer richtig gsund gwen is und s Mahn, weil da Vatter nimmer gsund gwen is und d Briada san im Krejch gwen. Und dann hast in da Nachbarschaft aushelfa mejssn, überall. Da kaant i a Liad singa."
90-jährige Dorfbewohnerin aus Roßbach
Mit dem Rad nach Regensburg
Die Läden, der Bahnhof und der Wirt waren im Dorf gut zu Fuß erreichbar. Aber zum Einkaufen fehlte das Geld. Wenn heute polnische und rumänische Arbeiter mit Saisonarbeit zusätzlich Geld verdienen, war das früher auch eine Möglichkeit für die ärmeren Bevölkerungsgruppen des Bayerischen Waldes. Scharenweise gingen sie für zwei, drei Wochen auf die Reise in die Holledau zum Hopfenzupfen. Ein bis zweimal im Jahr ging es mit dem Radl nach Regensburg. Andererseits, was hat man in der Stadt schon großartig unternehmen können?
"Ja mei, alles ogschaut – schee, wenn ma des alles gsehng hot, aber kaaffa hot ma ses net kinna, weil ma koa Geld ghabt ham. Meistens san uns drei Freindinnen gwen, ham uns no a kleinigkeit kaafft und dann samma wieder hoamgfahrn. S war a scheena Tog."
90-jährige Dorfbewohnerin aus Roßbach
Ein langsameres Leben – aber viel zu viel zu tun
Zum Spazierengehen und auch für Radlausflüge braucht man Zeit. Und die hat meine Gesprächspartnerin während ihres Arbeitslebens nicht gehabt, auch, wenn sie in einem Zeitalter herangewachsen ist, in dem alles langsamer gegangen ist – es gab immer viel zu viel zu tun. Ihr Mann bekam eine Kur in Berchtesgaden bewilligt, weil er sich im Steinbruch eine Staublunge geholt hatte. Und sie durfte im Alter von 50 Jahren zur Kur nach Gößweinstein, wegen ihrer Wirbelsäule. Urlaub war das nicht.
Einst Armut, Arbeit und Krieg – nun Konsum und Stress
Häuser, Wege, Plätze und Situationen im Dorf sind besetzt mit Erinnerungen. Sie sind der Nährboden für die Entwicklung von Heimatgefühlen. Oft aber fehlt die Zeit die Erinnerungen zu verorten und zu vertiefen. Haben früher Armut, Arbeit und Krieg die Menschen geprägt, so ist es heute der oft hemmungslose Konsum und der Stress im Beruf.
Wie fremd ist uns das Nahe geworden?
Dahoam is dahoam – was heißt das schon? So viel wie: Urlaub is Urlaub. Oder: furt is furt. Einerseits wollen viele fort von daheim. Sie leiden unter Enge, unter dem Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten. Andererseits gibt es eine große Sehnsucht nach einer kleinen überschaubaren Welt, in der man sich auskennt. Das Wort Heimat kommt ins Spiel. Eine Heimat, die sich nicht mit Klischees anbiedert und die nicht im Heimatmuseum gezeigt werden kann. Heimatgeschichte als Geschichte von einzelnen Menschen. Jeder Mensch wird zur Heimat für den anderen.
Daneben macht sich eine selbstgefällige, grob geschnitzte "populäre" Heimat breit. Ein Sonderangebot mit Markennamen und Symbolen genügt und schon fühlen sie sich die Kunden überall in der Welt daheim: Schweinsbraten, Weißwürscht, Burger, Kebab und a Bier zum Obeschwoabn. Fernstraßen und Fluglinien anstelle der feinen Adern der Feld- und Waldwege, der kurzen Wege zum Wirt, zum Bäcker oder zum Metzger.
Benjamin Raß – ein überzeugter Daheimbleiber
"Mia geht ja nix ab. I kann durchs Dorf geh. Wenn ma amol langweilig is, bin i ma sicher, i triff jemanden, wo ma se eihocka kann in Goartn oder in d Schupfa. Da is einfach schej. Wenn ma s a so siehgt, da hat ma scho sei Netzwerk."
Benjamin Raß, überzeugter Daheimbleiber
In Schwandorf, im Ortsteil Krondorf an der Naab, treffe ich Benjamin Raß. Ein junger, überzeugter Daheimbleiber sei er, hat man mir erzählt, so um die Dreißig, einer der gern daheim ist, dem Verreisen nichts abgewinnen kann. Wir unternehmen gemeinsam einen Spaziergang an der Naab entlang durch seine große kleine Welt.
"Links und rechts a bissl Berg und mia san halt richtig in der Senkn herinnat, in der Noo (Naab) doda. Und des nächste Dorf da, naababwärts, des is Ettmannsdorf. Da bin i praktisch geboren, des is zwoa Kilometer naababwärts, aaffiwärts kummt dann Irlach, Schwarzafeld, also alles a scheene Gegend, ma siaht a vül. Ma mou halt a bissl schaua. Es wird oam halt net so hitragn, wia wenn etz aaf a mords Event geht. Aber ma siaht desweng genauso s Zeig, des gibt’s aa. Ma mouss halt a bissl soucha. Dann siehgt ma amol, oana richt was her. Des is immer interessant, also alte Häuser. Kann ma higeh, kann ma mit dene redn. Dann arbat oana wieder was, wo ma se vielleicht net auskennt, na fragt ma den: Derf i a wenig zouschaua, kannst ma des erklären. Die meisten macha s. Freili gibt’s aa Leit, de da nix wissen wollen. Aber de meisten: 'I zoag da wej des geht oder hock de her oder schaus da mit oo.'"
Benjamin Raß aus Krondorf
Krondorf ist kein Kuhdorf. Hier gibt es kaum noch Landwirte. Es ist ein Dorf ohne Kirche und ohne Friedhof, eine Ansammlung von Häusern, im Naabtal nah am Fluss Naab, an da Noo, sagen die Einheimischen, an der Straße nach Amberg gleich neben dem Schwandorfer Volksfestplatz und den Eisenbahngleisen, die nach Weiden und Amberg führen. Alles in allem klingt das nicht gerade aufregend. Nicht unbedingt ein Sehnsuchtsort oder gar ein Touristenmagnet. Genau andersherum wird ein Schuh draus. Die meisten Einheimischen brechen hier im Urlaub auf, um in der Ferne den Thrill und das Abenteuer zu suchen.
"Mia ham alles in da Umgebung. Mia ham Seen. Mia ham Wold. Mia ham alles was ma so braucht. Ma muaß halt mim Weeda a wenig obacht gebn, weil wenn ma halt 14 Tag bloß Sunnaschein haben will, des ham halt mia niat. Und des braucht ma aber aa net unbedingt. Und wenn ma sagt, ma will halt amal an an See, dann soucht ma se halt an scheena Tooch aus, legt ma se hi, des is wai in Italien."
Benjamin Raß aus Krondorf
Benjamin Raß ist ein blitzgescheiter Zeitgenosse. Von Beruf ist er Elektroniker für Betriebstechnik. Er schloss seine Ausbildung als Zweitbester im Bereich der Industrie- und Handelskammer Regensburg ab. Aufgrund seiner guten Ausbildungsleistungen konnte er seine Lehrzeit um ein halbes Jahr verkürzen. Er könnte sich belohnen mit der Reise in ein sonnige Urlaubsland, wenn sich der Nebel im Naabtal breit macht. Er könnte es sich leisten.
"I kaannt in n Urlaub fahren, aber i wills einfach net. I hab einfach koa Interesse, dass i etz mords irgendwo hifoahr, mia glangt da Bayerische Wold vollkommen, amol a verlängertes Wochenende fahr ich gern amaol hinte, aber Mallorca oder irgendsowas, kein Interesse!"
Benjamin Raß aus Krondorf
Zufrieden Wurzeln schlagen
Während die "mobile Gesellschaft" immer in Bewegung bleibt, gibt es auch Menschen wie Benjamin Raß. Sie sind zufrieden in ihrer unmittelbaren Umgebung und sehen auch keinen Grund, sich großartig fortzubewegen. Menschen, die sich frei fürs Daheimbleiben entscheiden und Wurzeln schlagen. Benjamin Raß weiß, was er will. Aber er ist kein Prediger und kein Missionar. Er ist sich bewusst, dass er in einer Zeit lebt, die ihm viel Spielraum gibt, seine ganz persönliche Lebensqualität zu finden.