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Feministische Klassiker im Zündfunk "Ein Zimmer für sich allein" - Warum Virginia Woolfs Kampfschrift von 1929 auch heute noch schmerzlich aktuell ist

„Ein Zimmer für sich allein“ ist einer der Klassiker der Frauenbewegung schlechthin. Brillant und witzig beschreibt Virginia Woolf 1929 in diesem Essay die Lage der Frauen aus der Perspektive einer fiktiven Schriftstellerin, mit der wir die Möglichkeiten zu schreiben durchstreifen.

Von: Laura Freisberg

Stand: 14.04.2020 17:26 Uhr | Archiv

Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf | Bild: picture-alliance/dpa

Es geht um Geld, um Wertschätzung, um Macht - und um die Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Virginia Woolfs Essay “Ein Zimmer für sich allein” wird noch in diesem Jahrzehnt seinen 100. Geburtstag feiern und zum Glück hat sich seit 1929 sehr vieles weiterentwickelt: Frauenwahlrecht, diverse Verhütungsmöglichkeiten, Vergewaltigung in der Ehe ist strafbar, manche Staaten werden sogar von einer Frau regiert. Aber trotzdem: Woolfs Essay behält eine schmerzliche Aktualität.

Wieso sind Frauen arm?

“Wieso sind Frauen arm?”, fragte Virginia Woolf vor knapp hundert Jahren und  global gesehen sind sie das auch heute noch.

Ihr Essay “Ein Zimmer für sich allein” waren eigentlich zwei Vorträge, die sie an einem damals noch sehr jungen College für Frauen zum Thema “Frauen und Literatur” halten sollte. Aber statt über Frauen in der Literatur oder Literatur von Frauen nachzudenken, lenkt Virginia Woolf den Blick auf eine scheinbare Nebensächlichkeit: Die Bedingungen, unter denen Literatur, Kunst und Wissenschaft überhaupt entstehen können.

Sie erklärt: “Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte.” Zu diesem Zeitpunkt war Virginia Woolf selbst durch eine bescheidene Erbschaft einigermaßen abgesichert.

Shakespeares talentierte Schwester Judith

Um deutlich zu machen, wie sehr das Schaffen von großer Literatur nicht nur von Talent, sondern auch von äußeren Faktoren abhängt, erfindet Virginia Woolf eine Frau namens Judith Shakespeare. Sie ist die Schwester von William und gleichermaßen begabt. Aber: Sie bekommt weder eine Schulbildung, noch wird sie überhaupt in die Nähe einer Bühne gelassen. Im elisabethanischen Zeitalter durften Frauen überhaupt nicht schauspielern.

Virginia Woolf schreibt: “Es ist undenkbar, dass irgendeine Frau zu Shakespeares Zeit Shakespeares Genie hätte besitzen können. Denn ein Genie wie das Shakespeares wird nicht im hart arbeitenden, ungebildeten und hörigen Volk geboren. Dennoch muss es sowohl unter Frauen als auch in den Arbeiterschichten eine Art von Genie gegeben haben. Aber gewiss hat es nie den Weg aufs Papier gefunden.” Judith Shakespeare sieht in ihrem Dilemma nur einen Ausweg: Suizid.

Wer hat welche Mittel zur Verfügung?

Außerdem erfindet Woolf eine weitere Figur, Mary, die quasi ihr Alter Ego ist. Sie besucht zwei Universitäten: Eine die Jahrhunderte alt ist, viel Geld hat und nur Männer aufnimmt und eine neuere, für Frauen. An der Männer-Universität darf sie als Frau weder über den Rasen laufen, noch hat sie Zugang zur Bibliothek. Außerdem ist das Essen für die männlichen Studenten so köstlich, dass sie danach bestens philosophieren können, während sich die Frauen mit einem Verdauungsschnaps über das schlechte Kantinenessen hinwegtrösten müssen.

Backpflaumen und Schnaps - das klingt eher lustig, nach einem kleinen Problem. Aber im Grunde beschäftigt das unsere Gesellschaften heute noch: Wer hat welche Mittel zur Verfügung und darf welche Ressourcen nutzen?

Care-Arbeit und Bechdel-Test

“Ein Zimmer für sich allein” nimmt eine ganze Reihe von späteren feministischen Diskursen vorweg. So stellt Virginia Woolf schon 1929 die Frage, warum Arbeit so unterschiedlich bewertet wird - und warum typische Tätigkeiten von Frauen so viel geringer geachtet werden. Heute diskutieren wir immer noch über den Wert von Care-Arbeit und Pflegepersonal wird zwar beklatscht, aber trotzdem mies bezahlt.

Auch die Idee des sogenannten Bechdel-Test taucht in diesem Essay auf, also die Frage, ob sich zwei Frauen in einem Film oder einer Geschichte über etwas anderes unterhalten, als über einen Mann. Virginia Woolf beklagt, wie wenige spannende Frauenfiguren es in der Literatur gibt, wie ausschließlich Frauen in Bezug auf Männer wahrgenommen werden. Und das gälte nicht nur für die Fiktion, sondern auch für die Geschichtsschreibung, die sich mehr für Herrscher und ihre Kriege interessiere, als für die Lebensbedingungen von Frauen. Im Grund fordert sie hier eine „Her-story“, eine weibliche Geschichtsschreibung.

Beziehungen zwischen Frauen - jenseits von Rivalität

Ende der 60er Jahre wurde “Ein Zimmer für sich allein” von Feministinnen wieder entdeckt, heute hat der Essay einen Status als Klassiker. Es lohnt sich, ihn immer wieder mal zu lesen, denn jedes Mal gibt es einen neuen Aspekt zu entdecken: Bemerkungen zu Frauenfreundschaften und lesbischer Liebe, zu dem schrecklichen Gefühl, sich aus Angst vor dem Jobverlust selbst verleugnen zu müssen - und die Befreiung, die finanzielle Unabhängigkeit innerhalb einer Beziehung bedeutet. Der hochliterarische Schreibstil von Virginia Woolf mag davon ablenken, aber “Ein Zimmer für sich allein” ist eine Kampfschrift - und zwar eine der elegantesten die es bis heute gibt.

Zündfunk-Kollegin Laura Freisberg moderiert seit sechs Jahren einen feministischen Leseclub in München. Weil gerade jetzt Zeit zu lesen ist, hat sie für uns eine total subjektive Best-Of-Auswahl getroffen und stellt ihre feministischen Lieblingsklassiker vor.


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