Essay Esoterik ist in, auch im Pop – aber der Grat zum Schwurbeltum ist schmal
Ob Madonna und die „Kabbala“-Lehre, Nina Hagen und die „Hare Krishnas“ oder Moonchild Sanelly und ihr Glaube an die Mondphasen: Esoterik trendet seit jeher im Pop – und verkauft sich hervorragend. Hinter Spiritualität steckt eine riesige Industrie. Aber wann krachen die Überzeugungen ein bisschen zu hart auf die Realität?
Und da stand ich also. Barfuß, in einem Hare Krishna-Tempel irgendwo in der Bretagne. Neben mir meine Familie, um uns herum Menschen in orangenen Gewändern, die Mantras sangen und auf Trommeln herumschlugen. Bunte Wimpel überall - und gelangweilte Personen, die uns durch die Räumlichkeiten führten und vom Hinduismus erzählten. Eine Stunde lang sind wir dafür damals im Sommerurlaub 2010 in die Pampa gefahren – und nicht etwa unbedingt aus Langeweile oder wegen des Bildungsaspekts. Nein, wegen Pop!
Meine Mutter hatte uns den Besuch als „lustige Fortführung“ unserer damaligen Obsession mit der Hare Krishna-Anhängerin Nina Hagen verkauft, die wir alle herrlich schrullig fanden und deren Musik wir liebten. Heute weiß ich: Die Freude, die ich an Nina Hagens schräger spirituell angehauchter Musik im Auto verspürte, war real. Die Befremdlichkeit, die ich 2010 in diesem Tempel gespürt hatte, war es auch.
Esoterik in den Global Top 100
Springen wir erstmal zurück in die Gegenwart. Esoterik und Spiritualität haben gerade ein High. Und die Teenies von heute müssen dafür nicht erst 15 Stunden in die französische Pampa zu einem Krishna Tempel fahren. Sie öffnen einfach TikTok und innerhalb von Sekunden erscheint dort leicht verdaulicher Esoterik-Content, der meisten gar nicht so leicht als solcher zu erkennen ist: Attraktive Frauen und Männer, die einem ungefragt die Tarot-Karten lesen, weil sie magischerweise „spüren, dass man das braucht“, Finance-Bros, die dich mit Affirmationen in ihr Schneeballsystem einladen oder einfach nur Videocollagen von atemberaubenden Naturaufnahmen untermalt mit emotionsvoller Musik und luftig-leichten Sprüchen.
Ganz oft kommt die Esoterik trotzdem erstmal recht harmlos daher. Als Poesie für die Seele. Als Unterhaltung für Abende auf der Couch. Fakt ist aber: Ohne, dass wir es aktiv merken, sind wir damit längst Teil der Industrie. Die Esoterik hat Kapitalismus durchgespielt. Und Views, Klicks, sowie Streams sind eine wichtige Währung. Allein in den Global Top 100 stehen aktuell einige Songs, die esoterisch anmuten. Billie Eilish zum Beispiel, wenn sie in „Birds of a Feather“ singt „i knew you in another life“, oder SZA in „Saturn“: „If Karma’s really real, how am i still here?“. Ich schreibe “esoterisch anmuten”, denn sofort stellt sich mir die Frage: Ist das schon Esoterik – oder “nur” spirituell?
Riesige Industrie
Die Grenze zwischen Religion, Spiritualität und Esoterik ist heute fließend. Und oft ist es gar nicht so einfach zu unterscheiden, wann etwas wirklich “esoterisch” ist oder tatsächlich Hand und Fuß hat. Die Esoterik meint das „innere, verborgene, geheime Wissen“, "esoterisch” heißt so viel wie „zum inneren Kreis gehörig“. Es ist eine Grenzwissenschaft, die auf eine gewisse Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung des Menschen abzielt. Aber eben mit kruden Mitteln. Esoterik beruht von Anfang darauf, dass ein bestimmtes Wissen nur denjenigen zugänglich ist, die es verstanden haben – oder sündhaft viel Geld für Hilfsmittel, Kurse oder sonstiges gezahlt haben. Und gerade dieser Aspekt schreit nach einer perfekten Grundlage für Verschwörungstheorien. Dazu später mehr.
Wenn nicht Esoterik, ist zumindest Spiritualität ein fester Teil unseres Zeitgeistes. Eins der erfolgreichsten Alben weltweit im Jahr 2023 war „Red Moon in Venus“ von Kali Uchis. Laut der Pseudo-Wissenschaft Astrologie steht ein roter Mond für schlechte Omen und die Apokalypse, die Venus wiederum ist die Göttin der Liebe. Der Albumtitel soll den Charakter einer liebeskranken, sinnlichen Frau versinnbildlichen, das Hauptthema des Albums. So Uchis etwa im Song “Moral Conscience”: “One thing about karma, that bitch will find you”. Oder die junge Künstlerin WILLOW, die auf ihrem neuen Album “empathogen” singt: “ Palms to the earth because I feel her breathe. Syncing to a rhythm between I and she”.
Ähnlich aber anders: Die südafrikanische Künstlerin Moonchild Sanelly, beheimatet zwischen Genres wie Amapiano und Gqom. Ihr Name heißt übersetzt „Mondkind“, ein Augenwink also auf die Theorie der Mondphasen. Und ja, meine Perspektive ist natürlich eurozentristisch. In vielen Kulturen außerhalb Europas werden Esoterik und Spiritualität nochmal anders gesehen, anders gewichtet und auch anders ausgeübt. Oft steckt dahinter ein tiefgreifender Gedanke von Zugehörigkeit, Verbundenheit und auch Empowerment.
Wann wird es problematisch?
Einer der gewinnbringendste Zweige der Esoterik, ist die Homöopathie. Laut dem Analyse-Unternehmen IQVIA war zum Beispiel der Verkauf von Homöopathischen Arzneimitteln 2021 auf einem All-time-High, dazu kaufen immer mehr Menschen spirituelle Ratgeber und auch Social Media zeigt: Influencer, die Yoga-Content machen, haben die höchsten Wachstumsraten auf dem Markt (Quelle: FAZ). Der Handel mit Heilölen und Heilsteinen boomt ebenfalls – doch die sind nur die Spitze des Eisbergs. Gerade die alternative Medizin ist ein Schlaraffenland für Menschen, die Geld mit Angstmacherei und haltlosen Heilsversprechen machen wollen.
Je tiefer man in dieses Feld eintaucht, desto wahnsinniger wird es: Für 450 Euro bis 1.500 Euro zum Beispiel gibt es den “Healy”, ein Gerät, das wie ein Tracker am Körper getragen wird. Durch Aussendung von Frequenzen soll er der "Harmonisierung des bioenergetischen Feldes" dienen und bei chronischen Schmerzen, Schlafstörungen und Depressionen helfen. Nichts davon basiert auf klinisch getesteten Fakten, alles auf Gefühl. Trotzdem ist es im Internet frei erhältlich.
Das Interessante: Wahrscheinlich würden viele so etwas wie den “Healy” ablehnen, eine App aber, die einem tagtäglich nette Sprüche und Affirmationen aufs Smartphone spült nicht. Und das Kali-Uchis-Album schon gar nicht. Ich habe das Gefühl, Esoterik und Spiritualität wird oft belächelt, ist selten ein „Dealbreaker“, kein Grund, etwas zu kritisieren, oder nicht mehr zu konsumieren – auch im Pop. Dabei haben gerade die letzten, teils kollektiv traumatischen Jahre, Esoterik und Spiritualität in ein anderes Verhältnis zur Realität gesetzt – zumindest für mich. Stichwort: Pandemie.
Schwurbel meets Pop
Sicher sind die meisten von uns seit 2020 im privaten Umfeld auf Sturheiten und Sichtweisen gestoßen, die vorher nicht sichtbar waren. Aber auch in der Gesellschaft und im Pop haben sich einige Personen in querdenkende Abgründe begeben: Xavier Naidoo zum Beispiel, der plötzlich anfing von Kinderblut trinkenden Politikerinnen zu sprechen. Von Echsenmenschen und Eliten, die uns alle beherrschen und insgeheim kontrollieren wollen. Er postete dramatische Videos auf Social Media und schrieb Texte wie: “Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein? Seht ihr nicht? Ihr seid nur Steigbügelhalter.”
Wir halten fest: So beliebt und verbreitet Spiritualität und Esoterik im Pop auch sind – es wird schnell problematisch, wenn sie von Künstlerinnen als Grundlage für ihre politische Haltung genutzt wird. Wenn sie ihre Reichweite und Musik dafür missbrauchen, um Unwahrheiten und Dinge fernab aller Fakten und aller Realität zu verbreiten. So wie Nena zum Beispiel, die einzige Deutsche die je einen Nummer-1-Hit in den USA gelandet hat. Die 2020 plötzlich mit der “Querdenker”-Bewegung sympathisierte und alles mit schwurbligen Worten der Spiritualität besiegelte. “Ich habe meinen tiefen Glauben an Gott. Daher kommt mein Vertrauen ins Leben”, schrieb sie damals auf Instagram, “So ist es mir möglich, mich nicht hypnotisiert von Angst in die Dunkelheit ziehen zu lassen. Lasst uns ins Licht gehen und für die Liebe stehen". Was das genau das bedeuten sollte: unklar. Am Ende aber gab sie damit einer Bewegung Aufwind, die sich weigerte, sich gegen Covid impfen zu lassen.
Extrem ist immer schlecht
Viele schmießen seit dem Anfang der Pandemie geschätzte Musikerinnen aus ihren Playlists. Musikerinnen, die vorher sehr erfolgreich waren. Zugegeben, bei Naidoo erreichte die Esoterik nochmal eine andere Qualität: Waschechte, teils antisemitische Verschwörungstheorien mit Reichsbürger-Touch, die die Gesellschaft klar verurteilt hat, obwohl immer davon gesprochen wird, dass diese sehr gespalten sei. Trotzdem sehe zumindest ich die Pop-Landschaft mittlerweile mit anderen Augen. So, als hätte das Gehirn nach all den Jahren herausgezoomt und plötzlich das ganze Bild gezeigt: Der nette Pop-Star mit toller Stimme und Feel-Good-Messages ist eigentlich Impf-Gegner und findet, tief-furchende gesellschaftliche Krisen lassen sich mit Licht und Liebe lösen.
Und da hört der Spaß auf. Wenn wir uns und andere Menschen in Gefahr bringen, wenn wir das Zusammenleben und die Realität aus den Augen verlieren. Spiritualität und Esoterik, Hinduismus und Yoga, Affirmationen und Horoskope – das ist alles per se nichts Schlechtes. Ins Extreme abzudriften aber schon. Und genau dafür dient die Spiritualität leider viel zu oft als Vehikel. So auch bei der Hare Krishna-Bewegung, die orangenen Mönche, die ich 2010 mit meinen Eltern besucht habe. Sie gelten zwar seit Jahren als „reformiert“, wurde in den 70ern aber als „Jugendsekte“ eingestuft und mussten sich damals sogar für Fälle von Kindesmissbrauch verantworten. Auch heute stehen sie noch in der Kritik für eine “zu extreme” Form des Hinduismus, die den Kapitalismus zwar ablehnt, ihre Mitglieder aber schon fast aggressiv zum Betteln schickt. Für mich ein Moment des Reflektierens: Augen auf im Pop - und Augen auf vor blinder Gefolgschaft vor deinen liebsten Popstars.