Ode an das Schallplattenfachgeschäft Wieso Frauen früher Angst vor Plattenläden hatten – und warum das heute nicht mehr nötig ist
Endlich! 2024 werden zum ersten Mal die besten Plattenläden Deutschlands ausgezeichnet. Den deutschen Buchhandlungspreis gibt es nämlich schon seit zehn Jahren. Ein Grund zum Jubeln! Doch bei Valerie Trebeljahr regen sich dunkle Erinnerungen: Sie hat sich früher schnellstmöglich aus dem Plattengeschäft geschlichen.
„Plattenläden sind wichtige Kulturorte“. Das wussten wir schon immer. Das sagt aber seit Neuestem auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth und lobt zum ersten Mal den “Deutschen Preis für Schallplattenfachgeschäfte” namens „EMIL_“ aus, dotiert mit einer Million Euro. Das ist richtig und wichtig, denke ich beim Lesen der Pressemitteilung und nicke freudig mit dem Kopf.
Wichtige Insider-Gespräche
Dabei mochte ich Plattenläden früher gar nicht. Ich hatte regelrecht Angst vor ihnen. Schließlich war ich weiblich und damit schon mal per se uncool und nicht geeignet für die wichtigen Insider-Gespräche am Verkaufstresen oder vor dem Zwölfzehner, an dem man mit Glück in die Platten hineinhören konnte.
Die Gespräche wurden gerne von männlichen Menschen mit dem Betreiber des Ladens geführt. Dieser definierte als eine Art Clan-Oberhaupt, was gerade angesagt war. Dabei spielten immer Zahlen und Geheimwissen eine große Rolle: Wann welches Album erschienen war, dass die arg gesuchte Weißpressung Eingang in das Plattenregal von Soundso gefunden hatte, dass man von dieser oder jener Band schon sehr, sehr lange gewusst hatte, auf jeden Fall vor allen anderen. Im Grunde und mit Abstand betrachtet, war es eigentlich einer Auto-Diskussion nicht unähnlich oder auch der Unterhaltung, wie man am besten Feuer macht oder grillt. Nur dass Platten natürlich eine größere künstlerische Aussage haben als Würstchen.
Kundenfreundlichkeit hätte die Autorität untergraben
In all den Jahren huschte ich manchmal in die Plattenläden, komplett unsichtbar für die Mitarbeitenden. Kundenfreundlichkeit war an sich eher nicht angesagt, das hätte die Autorität untergraben. Ich schlich um die Indie-Platten herum, manchmal nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte nach einer bestimmten Neuerscheinung. Dann erntete ich neben einem Seufzen ein desinteressiertes „Schau mal dahinten“ und war froh, wenn ich den Laden bald wieder verlassen konnte.
Spotify zerstörte das Geheimwissen
Napster und später Spotify zerstörten das alles. Sie zerstörten nicht nur, dass Musiker von ihrer Musik leben konnten und Plattenladenbesitzer vom Verkauf von Platten. Sie zerstörten die Macht des Geheimwissens. Jeder und jede konnte zu jeder Zeit auf praktisch alle Musik zugreifen. Sie war immer verfügbar. Geheimtipps wurden einem per Algorithmus in die Playlist gespült. Oder man folgte irgendwem und bekam tolle neue Musik ohne Belehrung oder Wettkampfgedanken, einfach so. Neben all den wirklich fiesen Nachteilen, die Spotify mit sich brachte, feierte ich die Demokratisierung der Musik enorm.
Die Welt hat sich verändert und mit ihr die Plattenläden
Jedoch: Im Digitalen ist jeder für sich allein. Die Playlist, der ich folge, geht auf kein Konzert mit. Es gibt keine Begegnung. Aber wir brauchen Community – und die kann man im Plattenladen finden: Gleichgesinnte, Begeisterte, Unvernünftige, die mit viel Leidenschaft jeden Tag - against all odds – ihr kleinen Laden führen. Im Plattengeschäft meines Vertrauens wird mir heute freundlich zugenickt. Ich kann dort auch peinliche Musik kaufen, denn alles ist erlaubt. Die Welt hat sich verändert und mit ihr die Plattenläden. Ich gehe dort auf kleine Konzerte und Lesungen, ich kaufe Bücher und manchmal sogar Platten.
Wie wäre es mit MARY statt EMIL
Kulturstaatsministerin Claudia Roth und lobt zum ersten Mal den Deutschen Preis für Schallplattenfachgeschäfte aus
Insofern freue mich wirklich, dass Claudia Roth die „Schallplattenfachgeschäfte“ unterstützt! Denn was wären wir ohne sie!! Einzig an dem Namen könnte man noch arbeiten: EMIL ist keine Abkürzung für etwa „Einzigartig, Monströs, Irretolle, Langspielplatte“, sondern beruft sich auf den Erfinder des Grammophons, Emil Berliner. Nichts gegen Herrn Berliner, wir haben ihm viel zu verdanken. Aber wie wäre es mit MARY, die 1945 als weibliche Pionierin das Aufnahmestudio Mary Howard Recordings gründete. Ein schöner Name wäre auch WILMA: Wilma Cozart Fine setzte neue Standards in der Schallplattenproduktion. 2011 wurde sie dafür posthum mit einem Grammy ausgezeichnet. Oder VICTORIA Hernández, die 1927 einen Plattenladen in New York City eröffnete. Nur so ein Gedanke.