Meinung Darum war 2023 das Jahr des Punk
Vor einem Jahr haben wir vorhergesagt, dass 2023 das Jahr des Punk wird. Jetzt ist es Zeit für eine kritische Bilanz. Es gibt Gründe, die für die prophetischen Kräfte der Redaktion sprechen – aber auch einige schockierende Entwicklungen.
Letztes Jahr um diese Zeit war ich ganz sicher: 2023 wird das Jahr des Punk! Viele Kollegen und Freunde haben den Kopf geschüttelt, aber ich bleibe auch ein Jahr später dabei. Und warum? Ich sag’s am besten mit Schorsch Kamerun, dessen Antwort aus einem ZDF-Interview mit Tobias Schlegl aus 2016 auch nie alt wird: „Weil dieses Angebot der Gesellschaft schwach war. Man hat von sehr simplen Lebensentwürfen gesprochen: Schule, Lehre, Ausbildung, Arbeit Tod. Und irgendwie hatten wir andere Ideen. Nämlich zum Beispiel… Ja, Saufen oder sowas.“
Das sind die besten Deutschpunk-Alben aus 2023
Ganz anders als das arme gesellschaftliche Angebot war dieses Jahr das reiche musikalische Deutschpunkangebot. Gleich am sechsten Januar wurde die erste große Rakete gezündet: Die Band Pascow aus Gimbweiler – ja, den Ort gibt’s wirklich – hat mit ihrem neuen Album „Sieben“ einen Rundumschlag des politischen Frusts voller Hits zum Mitsingen abgeliefert. Eine der stärksten Punk-Platten der letzten Jahre, mit eingängigen Songs wie „Mailand“, „Königreiche im Winter“ oder „Grüßt Eve“. Bei Pascow lernt man wieder, Idyllen nicht zu trauen. Und es gab noch viel mehr.
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Pascow - Königreiche im Winter - Featuring Apocalypse Vega (Official Video)
Team Scheiße, Loikameie, Dritte Wahl und viele mehr
Team Scheiße haben sich mit ihrem neuen Album „042124192799“ nochmal gesteigert. Nur unter der Telefonnummer ist aktuell leider keiner mehr zu erreichen. Feine Sahne Fischfilet haben mit „Alles Glänzt“ ein gewohnt starkes Album abgeliefert. Dann kamen BURNOUT OSTWEST mit einer Hammer Platte namens „Würzburg stärkt die Szene“ und die besten deutschen Oi-Punker von Loikaemie haben mit „Menschen“ auch ein echtes Brett abgeliefert. Und dann auch noch das: Mit Swiss und den Andern hat es erstmals seit langer Zeit ein Deutschpunk-Act auf Platz eins der Deutschen Album Charts geschafft, Der Albumtitel steht in bester Punk-Tradition: „Erstmal zu Penny“.
Selbst der Dezember 2023 ist noch voller Deutschpunk-Highlights. Mit „Urlaub in der Bredouille“ ist ein solides neues Album der Kultpunker Dritte Wahl erschienen, voller gesellschaftskritischer Hits wie „Wir schießen die Milliardäre ins All“ oder „Das regelt der Markt“. Mit Gruß an Finanzminister Christian Lindner, denn laut Dritte Wahl regelt der Markt gar nichts, außer den kontrollierten Untergang. Und dann die Schnapspraline auf der Punker-Sahne-Torte: Ein neuer Song von F*cking Angry, der in Mitten der Aussichtslosigkeit von Kriegen und Krisen noch tatsächlich das alte „No-Future-Motto“ der Punkbewegung widerbelebt: „Dunkelheit“.
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F*cking Angry - Dunkelheit (Video)
Selbst die Tagesthemen berichten über Punk
Musikalisch war 2023 also auf jeden Fall ein Punkjahr. Und das behaupte nicht nur ich. So war zum Beispiel am 26. Juni um circa 22:33 Uhr in der ARD Folgendes in den Tagesthemen zu hören: „Ganz tot war der Punk ja ohnehin nie. Auch wenn die Punk-Legenden von einst heute schon ein paar müde Knochen haben. Es gibt sie noch – und es gibt sogar Nachwuchs.“ Es folgt ein Beitrag von einem kleinen Szene-Festival in Thüringen, das sich gegen Rechts und gegen die AfD richtet. Und der beginnt mit folgenden Worten: „Du bist so dumm, du könntest Vorgesetzter sein. Das singt Team Scheiße am Donnerstagabend in Erfurt. Die Band ist bekannt für ihre provokanten Texte. Erfolgreich vor allem bei jüngeren.“
Warum Punk seit 2023 auch etwas für Kinder ist
Ja, da freuen sich die Karstadt-Detektive, Vorgesetzten und Pfandflaschensammler, wenn selbst die Tagesthemen erkannt haben, dass Punk auf dem Vormarsch ist. Wobei… Ist es wirklich noch Punk, wenn sogar schon die Tagesthemen feststellen, dass Punk wieder in ist? Besonders antiautoritären Punkerseelen dürfte das nicht gefallen! Und dann ist Punk neuerdings auch noch familienfreundlich! Ja, unter dem Musikvideos des 2023er Hits „Schmetterling“ von Team Scheiße schreibt ein Nutzer: „Ich weiß, dass ich dafür nicht den Preis ‚Vater des Jahres‘ bekomme, aber meine Tochter, 5, singt dieses Meisterwerk jeden Tag mit mir im Duett. Ich weiß nicht, ob ein Mensch stolzer sein kann…“
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Team Scheisse - Schmetterling (Official Video)
CSU-Bürgermeister singt in Punkband
Es war allerdings auch nicht alles rosig, im Punkjahr 2023. Campino tauchte im Frack zum Staatsbankett von König Charles dem III. auf. Wolfgang Wendland von den Kassierern zum Beispiel machte Werbung für die Deutsche Bahn. Und dann die Meldung bei BR24, dass ein fränkischer CSU-Bürgermeister in einer Punkband singt. Die Rede ist vom 47-jährigen Thorsten Wozniak, dem Bürgermeister vom unterfränkischen Gerolzhofen, der kürzlich seine Schüler-Punkband „EIS“ widerbelebt hat und mit ihr ein Konzert im benachbarten Volkach gespielt hat.
Ein vermeintlicher Nackenschlag für das Punkjahr 2023? Bei BR24 heißt es als Begründung: „Natürlich seien er und die anderen Bandmitglieder inzwischen die klassischen Spießbürger mit Familie, Einfamilienhaus und Auto. ‚Aber es geht ja um die Haltung, um Toleranz und Meinungsfreiheit. Man kann ja auch das eigene Leben kritisieren. Wichtig ist, dass man versucht, manche Dinge zu verändern‘, erklärte der Bürgermeister.“ Klar, auf kommunale Ebene gibt's manchmal coole Bürgermeister, aber vom Schorsch Kamerun-mäßigen „Kein-Teil-der-Gesellschaft-sein-wollen“ ist das schon ein gutes Stück entfernt. Als nächstes schreibt der Bayerische Rundfunk noch darüber, dass 2023 das Jahr des Punk war. Achso... Oops!
Das steckt hinter dem T-Shirt-Gate
Ein weiteres Problem: der Kampf um die T-Shirts. Statt zusammen gegen den Kapitalismus, gegen den Rechtsruck zu kämpfen, beschimpften sich manche Punks lieber gegenseitig. Weil woke Punks finden, dass man aus Solidarität mit nicht-männlichen Personen als Typ nicht die Nippel zeigen sollte, ziehen sich andere demonstrativ aus oder schneiden Löcher in die T-Shirts an den Stellen, wo die Nippel sind. Das führte zu unschönen Szenen auf Konzerten - und es gibt sogar schon Songs zur Thematik, wie „Punkahpolizei“ von Swiss und Ferris, die wiederum die Woken attackieren: „Alle meine Leute kommen vorbei, Trigger Warnung oberkörperfrei, sag mal deiner Bubble nicht Bescheid, sonst rufen die die Punker-Polizei“, heißt es darin. Auch Max Bobzin, der Trompeter von Feine Sahne Fischfilet macht sich im Zündfunk-Interview über den Konflikt Gedanken. Er sagt, dass er im Pogo nie sein T-Shirt ausziehen würde, aber: „Ich komme trotzdem nicht über den Punkt hinweg, wenn mir jemand sagt, wie es zu laufen hat und ich mich autoritärem Regelwerk ausgesetzt fühle. Dass ich dann in eine kindliche Trotzhaltung zurückfalle.“
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Punkahpolizei
Warum auch 2024 das Jahr des Punk wird
Zu hoffen ist, dass sich nicht alle gegenseitig die Köpfe einschlagen – anstatt Rücksicht aufeinander zu nehmen. Schließlich schreien die politischen Probleme immer noch nach Punk und nach einer vereinten Szene. Schorsch Kamerun hat weiterhin Recht, das Angebot der Gesellschaft ist immer noch schwach. Ein paar Beispiele: Mieten und Lebensmittel werden immer teurer, die Gewinne der Rüstungskonzerne steigen und die Schere zwischen arm und reich geht weiter auseinander. Eigentlich ist auch 2024 alles bereitet, für ein neues Jahr, ach was, ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend des Punk!