Sesamstraße auf Twitter Elmo will spielen – aber alle sind depressiv
Elmo aus der Sesamstraße hat einen eigenen Account auf X (Twitter). Neulich hat er da gefragt, wie es uns so geht – und allen geht es so schlecht, dass sie Elmo ihr Herz ausschütten. "Elmo is just checking in!" – hat der rote Wollknäuel etwa die globale Mental Health Krise aufgedeckt?
Die Sesamstraßenfigur Elmo hat neulich auf Twitter gefragt, wie es uns so geht. Und – es geht uns nicht gut. Der Tweet "Elmo is just checking in! How is everybody doing?" wurde über 200 Millionen mal ausgespielt. In über 20.000 Kommentaren und über 60.000 Retweets schütten User ihr Herz aus und der Sound reicht von Ironie über Sarkasmus bis zur Depression: "Jeden Morgen kann ich es kaum erwarten, wieder schlafen zu gehen. Jeden Montag warte ich auf den Freitag. Jeden Tag und jede Woche meines Lebens." / "Elmo warst du neulich mal im Supermarkt einkaufen? Keine Ahnung ob du Auto fährst, aber hast du neulich mal getankt?" / "Die Welt brennt, Mann!" / Was glaubst Du, wie es uns geht?" / Meine Frau hat mich verlassen und mein Job ist ein Witz."
Die Sesamstraße unserer Kindheit
Eine Sesamstraßenfigur, die fragt, wie es uns geht. Das hätte auch ignoriert werden können. Als albernes Ding. Aber alle spielen mit und der Tweet geht viral. Was steckt dahinter? Warum reagieren Menschen überhaupt auf Elmo?
Die Antwort auf diese Fragen beginnt im Jahr 1969. Düstere Zeiten in den USA. Es herrscht Bildungskrise – und gerade die Kinder aus armen Familien haben das Nachsehen. Während ihre Eltern die vierte Schicht schieben, um Geld für die Miete zusammen zu kratzen, werden die Kinder vor dem Fernseher geparkt. Und da kommt einem Team aus TV-Autoren und Pädagogen die Idee: Warum nicht öffentliches Bildungsfernsehen machen? Für Kinder. Auf Augenhöhe. Damit Kinder lernen, dass Gewalt doof ist, dass ihre Gefühle zählen, und überhaupt – wie man richtig zählt mit Graf Zahl. Die Sesamstraße ist geboren. Eine Revolution.
Doch dann das: Nach 45 Jahren im öffentlich-rechtlichem Fernsehen wechselt die Sesame Street 2015 ins Bezahlfernsehen. Zu HBO. Mit dem Deal, dass neue Folgen fast ein Jahr lang nur dort zu sehen sind. Gegen Money. Eine unfassbar absurde Pointe, die den Gedanken der Bildungs-Barrierefreiheit verraten hat. Der Kapitalismus hatte gesiegt.
Elmo und die Mental Health Krise
Nun zu heute. Die Figuren von Sesame Street sind fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Sie haben Einzug in die heiligen Hallen der Popkultur gehalten. Sie sind Pop. Aber das allein reicht noch nicht, den viralen Hit von "Elmo checking in" zu erklären. Es sind genau drei Zeitgeist-Phänomene, die hier zusammenkommen.
Erstens: Der Erwachsene, der sich ironisch an Kinderwelten anlehnt. Einhörner! Alpakas! Dann tragen ausgewachsene Hipster ironisch Elmo-Shirts, und andere folgen der Figur auf Twitter. Das Stilmittel der Ironie ist genial. Du kannst dich verspielt und verletzlich zeigen, aber bevor dir jemand zu nahekommt, rettest du dich in die Uneindeutigkeit.
Zweitens: Der Therapie-Trend im Allgemeinen und die "Innere-Kind-Theorie" im Besonderen. In den 90ern wird die Theorie des Inneren Kindes in den USA populär und 2015, just als Sesame Street an HBO verkauft wird, erscheint in Deutschland der Therapie-Bestseller von Stefanie Stahl: "Dein inneres Kind muss Heimat finden". Aber auch ohne Therapieplatz wird es immer salonfähiger, offen über die eigenen Gefühlswelten zu sprechen.
Und drittens: Der Geist unserer Zeit: Die Corona-Pandemie, die Wirtschaftskrisen, die Inflation, die Wohnungsmarktkrise und die Vereinzelung der Gesellschaft im Neoliberalismus … Ganz ehrlich? Jeder ist fertig! Die Welt hat uns verraten, Elmo. Die Welt da draußen ist eine andere, als die Sesamstraße. Die User geben Elmo einen ganz harten Realitätscheck.
Deshalb geht Elmo viral
Und nun verbinde man diese drei Zeitgeist-Phänomene. Den Hipster, der die Figuren seiner Kindheit ironisch feiert. Eine über Mental Health aufgeklärte Gesellschaft, die sich nicht mehr schämt, über Gefühle zu sprechen. Und Menschen, die im Neoliberalismus zusammenbrechen. Und jetzt kommt Elmo, slidet in deine Timeline und fragt, wie es so geht: "Elmo is just checking in! How is everybody doing?" / "Mir geht’s beschissen, Danke fürs Fragen." / " Elmo ich leide hier an Existenzangst."
Einerseits feiere ich es, wenn es im Netz mal wieder menschelt. Wenn kein Hass verbreitet wird, sondern Mitgefühl. Wenn Menschen von Kanada bis Indien sich ironisch-unironisch öffnen und – und den Figuren ihrer Kindheit sagen, dass die Welt da draußen eine andere ist. Und durch die ironische Brechung einer Kinderfigur fällt es leichter, sich zu öffnen.
Der virale Post spielt ein Spiel. Alle spielen mit, kokettieren mit ihrem Seelenzustand und üben sich im Galgenhumor. Depression als Meme. Es ist lustig – aber gleichzeitig auch nicht. Weil man nie wissen kann, wer hier ironisch und wer hier ironisch-ironisch kommentiert, postet das Social-Media-Team von Elmo irgendwann vorsichtshalber Kontakte zu Depressions-Hotlines.
Depression als Meme
Andererseits aber feiere ich den viralen Hit nicht, denn hinter Elmos Account steckt auch ein Marketing-Team. Offene Fragen führen zu Austausch mit den Followern und erhöhen die Reichweite. Und dass Elmo uns allen zuhört und ein Ventil geöffnet hat, stärkt die liebevoll ironische Markenbindung – an eine Puppe, die sich im Kapitalismus genauso verkauft hat, wie wir.