TikTok und Antisemitismus Wie Algorithmen gezielt Hetze verbreiten
Eine neue Studie legt offen, wie TikToks Algorithmen Desinformation über den Israel-Gaza Krieg pushen. Wie Hass verbreitet wird und wieso TikTok so ungerne etwas dagegen unternimmt.
Weltweit Milliarde Nutzer hat die Kurzvideo-App TikTok mittlerweile. Längst geht es da nicht mehr nur Tanzvideos, sondern neben Unterhaltung auch um Lernen und Bildung – wie Fans betonen. Immer mehr Jugendliche nutzen TikTok als Suchmaschine, um Informationen einzuholen und sich weiterzubilden. Doch was sie bei kontroversen Themen finden, das zeigt nun eine Untersuchung der Bildungsstätte Anne Frank sind: Desinformation, Faktenverzerrung und Antisemitismus. So wie in diesem TikTok Video:
"Wenn du glaubst, dass Israel kein Kolonialmacht ist, die Hamas die Hamas, die bösen Palästina, den best-bewachtesten Staat der Welt, Israel, wollt ihr mir da wirklich sagen sechs Stunden lang wusste keiner Bescheid. Leute, rechnet 1 und 1 zusammen!" Die Nutzerin „Moamagic“ – die laut Profil zu Medien und Spiritualität postet - erklärt den Gaza-Krieg, wie sie ihn versteht: Israel sei ein unrechtmäßiger Staat, und das Attentat vom 7. Oktober 2023 von der israelischen Regierung geplant. Das Video erschien unter den ersten Ergebnissen, wenn man nur das Wort „Gaza“ in die Suchleiste der App eingibt. Einfach zugänglich. Ungefiltert.
Schon die ersten Videos zeigen Verschwörungserzählungen
Dass die Suche hier keine neutralen Fakten, sondern radikale Meinung ausgespuckt hat, ist kein Zufall, wie eine Untersuchung der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank nahelegt. Das Team um Direktorin Deborah Schnabel hat Inhalte auf TikTok in Bezug auf den Nahost-Krieg ausgewertet. Schnabel erklärt, statt neutralen, sachlichen Informationen fände man schnell: "sehr schnell in gefärbte Inhalte reinkommt und dann innerhalb von kürzester Zeit auch mit Verschwörungserzählungen konfrontiert wird."
Bei der Suche "Hamas" etwa, würden keine Erklärvideos angezeigt werden, die erklären, was die Organisation tut. Vielmehr würden die Terrorgruppe viel weniger tragisch dargestellt werden, als sie wirklich sei, so Schnabel. Das gilt auch für andere Inhalte: "Man findet zum Thema Judentum sehr schnell Videos, wo antisemitische Hetze, rechte Profile gezeigt werden“, sagt Schnabel.
Im "Radikalisierungstunnel" bekommt man immer mehr Hetze vorgeschlagen
Vor allem junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren seien anfällig, sich durch TikTok manipulieren oder sogar radikalisieren zu lassen. Die Autor*innen der Studie beobachteten einen Effekt, den sie „Radikalisierungstunnel“ nennen: Sieht man sich ein Video mit manipulativem Inhalt an – das man vielleicht gar nicht gesucht hat – zeigt einem TikTok mehr davon, diesmal noch ein wenig radikaler, und dann noch eins, und so weiter.
Das liegt an der Logik der Plattform selbst, wie Medien-Experte Markus Beckedahl erklärt: "Der TikTok Algorithmus geht nach kulturellen Vorlieben, das heißt, wenn man einmal oder zweimal nur etwas geliked hat, dann denkt der Algorithmus, dass man sich für ähnliche Inhalte genauso interessiert, weil der Algorithmus Algorithmus ein Interesse dran hat, unsere Aufmerksamkeit zu binden."
Die Gefahr von TikTok werde noch immer unterschätzt
Einmal reingezogen, werde man immer weniger mit anderen Meinungen konfrontiert. Viele Menschen, so Beckedahl, sei dieser Mechanismus der Plattform nicht genügend bewusst. So übersehe man, dass "teilweise skrupellose Akteure diese Mechanismen auf diesen Plattformen nutzen, um ihre Propaganda dort zu verteilen.”Dabei muss man die Videos weder aktiv suchen oder liken, den Inhalt nicht mal gut finden – es reicht, wenn der eigene Blick hängen geblieben ist, um dann mehr davon angezeigt zu bekommen.
Die Autor*innen der Studie der Bildungstätte Anne Frank weisen darauf hin, dass sich immer mehr Schüler und Schülerinnen so ihre Meinung bilden – also aus Halbwissen, aus dem Zusammenhang gerissenen Infoschnipseln, Meinung und Propaganda – unbemerkt von Lehrkräften und Eltern. Zu wenig werde die Gefahr des von den Plattformen ausgehenden Antisemitismus und Rassismus ernst genommen, warnt Schnabel, und zwar "sowohl von der Zivilgesellschaft, als auch von der Politik".
Die Sanktionen der EU gegen TikTok reichen nicht
Immerhin: Die EU hat TikTok nach dem Massaker vom 7. Oktober eine Verwarnung ausgesprochen, nachdem massenweise Gewaltszenen und Propagandaschnipsel die Plattform geflutet hatten. TikTok reagierte, löschte Hunderttausende Videos und stellte nach eigenen Angaben mehr arabisch- und hebräischsprachiges Personal ein, um Inhalte zu prüfen. Auch schränkte TikTok im März nach lauter Kritik die Reichweite des AfD-Politikers Maximilian Krah ein – allerdings nur für 90 Tage; und ohne etwas an der grundlegenden Systematik zu ändern.
Contentmoderation vom TikTok? Zu teuer.
Laut Experte Beckedahl reicht das alles bei weitem nicht.“Tiktok tut genauso wie andere Plattformen immer noch zu wenig, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. In der Regel gibt es erst durch öffentlichen Druck Konsequenzen auf den Plattformen." Dabei rücken aber immer nur ein kleiner Teil der Akteure, die Hass und Hetze verbreiten in den Fokus der Öffentlichkeit. Viele andere, so Beckedahl, könnten unbemerkt weiter machen. Warum tut TikTok so wenig?
TikTok verdient an der Radikalisierung
Beckedahl und auch die Autor*innen der Studien fordern die Politik auf, mehr in Medienkompetenz zu investieren – und auch TikTok mehr in Verantwortung zu nehmen. Denn die Plattform verdiene mit ihrem Radikalisierungsmechanismus Geld – und habe von sich aus kein Interesse, etwas daran zu ändern.
Die Plattform nicht den Hetzern überlassen!
Was Deborah Schnabel von der Bildungsstätte Anne Frank allerdings nicht fordert: Sich von TikTok fernzuhalten oder die Plattform gar abzuschaffen. Vielmehr sollten Medien und Zivilgesellschaft präsenter werden auf TikTok. Die Bildungsstätte Anne Frank betreibt seit über drei Jahren mit einem eigenen Account auf TikTok Aufklärungsarbeit zu Antisemitismus und Rassismus.
Man müsse anerkennen, dass TikTok das Leitmedium für viele junge Menschen sei. Trotz allen Nachteilen, biete die Plattform auch genügend Gestaltungsmöglichkeiten, die viel zu wenig genutzt würden.
TikTok nicht den Extremisten und Rechtspopulisten überlassen - hier sind auch wir, die Öffentlich-Rechtlichen gefragt.