100 Jahre Räterepublik in Bayern Zeitzeugen erzählen, wie die Revolution in München war
Die Geschichte der bayerischen Revolution von 1918/19 konnte bisher nur anhand schriftlicher Quellen erzählt werden. Doch eine Gruppe junger Filmemacher hat 1988 die letzten noch lebenden Zeitzeugen interviewt. Hier können Sie diese einzigartigen Dokumente sehen.
Die Schilderungen der acht Zeitzeugen aus den Videoaufnahmen sind einzigartige Dokumente eines gesellschaftlichen Aufbruchs, dem Bayern nicht nur die Bezeichnung "Freistaat" verdankt. 100 Jahre nach der bayerischen Revolution sind sie nun erstmals im Radio zu hören: Am Samstag, 13. April 2019, um 12.05 Uhr in Zeit für Bayern.
Als 17-Jähriger im Gefängnis Stadelheim verhört
Peter Lichtinger aus Giesing war am Tag der Revolution, dem 7. November 1918, gerade einmal 17 Jahre alt. Als Aktivist der Räterepublik und Rotgardist nahm er am 1. Mai 1919 an den Kämpfen in München teil. Er erlebte den Terror der Freikorps, wurde verhaftet und im Gefängnis Stadelheim verhört.
"Von der Theresienwiese gingen die Marschkolonnen von einer Kaserne zur anderen, da wurden die Soldaten rausgeholt. Geschlossen ging das von Kaserne zu Kaserne bis zur Feldherrnhalle. Da war ich dabei, da war ich ein junger Kerl. Da zogen die Massen in die Ludwigstraße zur Feldherrnhalle, zur Residenz, und da war der König Ludwig III. schon nicht mehr da, da wurde die Republik ausgerufen."
Peter Lichtinger, Zeitzeuge
Kindheit und Jugend während Revolution und Räterepublik
Hugo Jakusch und seine Schwester Mathilde Edel erinnern sich an die ärmlichen Lebensverhältnisse ihrer Familie. Hugo Jakusch erlebte Revolution und Räterepublik als Siebenjähriger. Sein Vater hatte ihn oft zu Versammlungen mitgenommen, unter anderem zum Trauerzug für Kurt Eisner. Die NS-Behörden verhafteten ihn am 10. März 1933. Er gehörte zur ersten Häftlingsgruppe des am 22. März eröffneten KZ Dachau und konnte erst im April 1945 von einem KZ-Außenkommando in Tirol flüchten. Mathilde Edel (geb. Jakusch) wurde 1904 als älteste der elf Jakusch-Geschwister geboren. Sie erlebte die Ermordung von Kurt Eisner am Promenadeplatz.
"Wir haben uns das vorgestellt, wenn die ganzen Fürsten und die ganze Clique, wenn die erledigt ist, dass wir dann besser leben können. Uns wär's auch lieber gewesen, der König wäre gleich verschwunden, weil der so gut gelebt hat, und wir haben ja so gehungert."
Hugo Jakusch, Zeitzeuge
"Wenn bei uns ein Kind gestorben ist, das war furchtbar. Eine Reserl ist gestorben, ein Hugo ist gestorben, ein Richard ist gestorben. Und wie da einer gestorben ist, da hat meine Mutter den ganzen Tag geweint. Was ich nicht habe verstehen können. Wo ich gesagt habe: Das ist doch jetzt erlöst."
Mathilde Edel, geborene Jakusch, Zeitzeugin
Vom Protest zur Revolution
Nicht nur der Hunger und die Armut waren groß in den Arbeitervierteln Münchens, auch der Hass auf den Krieg und das unsinnige Sterben an den Fronten. Sofie Radischnigg wuchs im Westend als jüngstes von neun Kindern auf. Den Einmarsch der Weißgardisten erlebte sie als 12-Jährige.
"Eine Freundin meiner Mutter hat zwölf Buben geboren. Elf sind gestorben im Kindsbett, und der Zwölfte ist im Krieg gefallen. Wie sie ihn abgemeldet hat in der Westendstraße im Polizeirevier, da hat sie über den Krieg geschimpft, und dass sie den letzten Buben hergeben musste, dann hat der Schutzmann gesagt: 'Liebe Frau, sind sie still, sonst muss ich sie verhaften.' Weil sie über den Krieg geschimpft hat."
Sofie Radischnigg, Zeitzeugin
Als zehnjähriges Mädchen erlebt Centa Herker 1918/19 die Revolution, die Niederschlagung der Räterepublik und den Terror von rechtsradikalen Freikorps und Weißgardisten. Centa Herker (geborene Kreszenz Dengler) wuchs in Schwabing in einer Arbeiterfamilie auf. Die Mutter war streng katholisch, der Vater ein aktiver Sozialdemokrat und gewerkschaftlich organisierter Bauarbeiter. Er nahm seine Tochter schon als Kind zu politischen Versammlungen mit.
"Die Straßen waren voll mit Plakaten über die Räterepublik und Versammlungsplakate und da und dort auch rote Fahnen aus dem Fenster."
Centa Herker, Zeitzeugin
Wilhelmine Dittenheber kann sich an die Redner auf der Theresienwiese erinnern:
"Da waren sehr viele Kundgebungen auf der Theresienwiese und da bin ich natürlich auch hin gegangen. Den Levine habe ich gehört, den Eisner habe ich auch gehört, damals noch. Die haben solche Trichter gehabt, wo sie gesprochen haben. Und da war ja die ganze Wiesn voll Menschen."
Wilhelmine Dittenheber (geb. Freidl) wuchs in einer Sendlinger Arbeiterfamilie auf und erlebte als 13-Jährige die Zeit der Räterevolution.
Nach der Ermordung des Journalisten, Sozialisten und ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner am 21. Februar 1919 durch den antisemitischen und rechtsextremen Reserveleutnant Anton Graf Arco-Valley überstürzten sich die Ereignisse. Über 100.000 Münchner versammelten sich bei seiner Beerdigung zu einer Manifestation für die Ziele der Räterevolution.
Erinnerung an die Beerdigung Kurt Eisners
Benno Scharmanski wuchs in einer Arbeiterfamilie mit drei jüngeren Geschwistern in großer Armut auf. Als 12-Jähriger nahm er auf eigene Faust an der Beerdigung von Kurt Eisner teil.
"Ich habe die vielen Menschen gesehen, oder aufrührerischen Menschen oder rebellischen Menschen. Ich war erstaunt oder verblüfft über diesen Zustrom bei der Beerdigung von Eisner. Über den Ostfriedhof kamen dann Flugzeuge, schmissen ihre Flugblätter ab, haben hinterher noch ein Transparent gehabt mit irgendeiner Aufschrift: 'Graf Arco, verschonet ihn nicht!' Und ähnliche Flugblätter mit dem Text sind dann abgeworfen worden. Ein riesen Beerdigungszug, den es nur einmal gegeben hat, und das war zu jener Zeit."
Benno Scharmanski, Zeitzeuge
Immer lauter werden nach der Ermordung von Kurt Eisner die Forderungen nach Ausrufung der Räterepublik: Hunger und Arbeitslosigkeit herrschen in München, die Armut ist groß. Von Tag zu Tag wächst die Wut der Arbeiter und Arbeiterinnen über horrende Mieten und Preise, über Kriegsgewinnler und das Geschäft mit der Not. "Die Entscheidung ist gefallen. Baiern ist Räterepublik", so stand es am Morgen des 7. April vor 100 Jahren in großen roten Lettern auf hunderten Plakaten an den Litfaßsäulen und Hauswänden Münchens. In einer turbulenten Versammlung hatten in der Nacht zuvor im ehemaligen Schlafzimmer der Königin Therese im Wittelsbacher-Palais Arbeiter, Intellektuelle, Soldaten und Gewerkschafter für die Macht der Räte gestimmt. Viele Errungenschaften und Rechte, die im 20. Jahrhundert erkämpft wurden, stammen aus der kurzen Zeit der Münchner Revolution von November 1918 bis Mai 1919: der Acht-Stundentag, das Frauenwahlrecht, die Abschaffung der Sonntagsarbeit und der geistlichen Schulaufsicht, die Einrichtung von Betriebsräten und das Streikrecht, die Reform des Gesinderechts, also die Abschaffung der faktischen Leibeigenschaft des Dienstpersonals, und einiges mehr.
Weißer Terror gegen die rote Republik
Doch der Räterepublik bleibt nicht viel Zeit. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Johannes Hoffmann lehnt Verhandlungen ab und ruft in Bamberg zum Sturz der Räte auf. Truppen der Reichswehr, unterstützt von rechtsextremen Freikorps rücken nach München vor. Es kommt zu ersten Massakern: "Ohne Verhör und Urteil", berichtet der Schriftsteller Oskar Maria Graf, werden in einer Kiesgrube bei Lochham 53 kriegsgefangene Russen, die von der Räteregierung freigelassen worden waren, von den "Weißen" erschossen.
Die schwersten Kämpfe finden rund um den Hauptbahnhof und den Stachus sowie in Giesing statt. Peter Lichtinger erzählt: "Vor den Barrikaden eine wogende Menschenmenge, Zivilisten, die wo die Rotgardisten aufmunterten und die Matrosen: Aushalten! Und auf einmal war niemand mehr da am Stachus, die Panzer waren weg - der Kiosk vor den Barrikaden, der war vom Panzer zermalmt worden, nach dem Panzerangriff hat sich alles verflogen, na ging’s in Untergiesing weiter. Da ist der Epp scho eingezogen in München mit hunderten von Weißgardisten, und dann ging das Gemetzel los in Untergiesing."
Die Weißgardisten ermorden hunderte Münchner Arbeiterinnen und Arbeiter - die Rache kostet rund 1.200 Menschen das Leben. Vor allem in den Arbeitervierteln wie Giesing durchkämmen die Freikorps Haus für Haus nach den verhassten Revolutionären. Viele werden sofort erschossen, andere ins Gefängnis Stadelheim gebracht. "Was für uns am Schlimmsten war, dass damals hauptsächlich von der SPD die Truppen geschickt worden sind. Das war für uns grausam", so der Zeitzeuge und Sozialist Hugo Jakusch.
Emil Meier wuchs in einer kinderreichen Arbeiterfamilie in Giesing auf. Als 10-Jähriger erlebte er die Niederschlagung der Räterepublik und den Terror des Freikorps Epp.
"Mich hat es gewundert, und heute noch, dass man nicht erwähnt, dass Eisner eigentlich derjenige war, der Bayern zum Freistaat gemacht hat ... Freistaat Bayern, das wäre doch wirklich was zum Erwähnen. Freistaat Bayern!"
Emil Meier, Zeitzeuge
Viele der Mörder tragen schon damals das Hakenkreuz am Stahlhelm und gehören später zur Gründergeneration von SA und NSDAP.
Es führt eine direkte Linie von der Niederschlagung der Räterepublik zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 - personell und auch ideell. Und viele der linken Revolutionäre von 1918 und 1919 finden sich nach 1933 im KZ wieder - auch die Zeitzeugen in dieser Sendung: Emil Meier und Hugo Jakusch gehören zu den ersten Häftlingen des KZ Dachau, ebenso wie die Ehemänner von Centa Herker und Wilhelmine Dittenheber. Auch Benno Scharmanski und Peter Lichtinger werden in Dachau inhaftiert. Sofie Radischnigg wird von den Nazis in Schutzhaft genommen und wegen "Hochverrat" angeklagt. Ihr Vergehen: Sie waren in der kommunistischen Bewegung und im antifaschistischen Widerstand aktiv. Doch der Naziterror hat sie nicht gebrochen - auch nach dem Ende der Hitler-Diktatur sind sie aktiv geblieben.
Hintergründe zu den Zeitzeugen
Die Interviews mit den Zeitzeugen sind 1988 in kollektiver Zusammenarbeit von Ulrike Bez, Petra Gerschner und Michael Backmund entstanden, um die Berichte und Erfahrungen der wenigen noch lebenden Augenzeugen der Münchner Räterevolution zu bewahren und weiterzugeben.
© All rights reserved: Michael Backmund, Ulrike Bez, Peider A. Defilla, Petra Gerschner, München 1988/2018
Redaktion: Michael Backmund, Petra Gerschner
Produktion: B.O.A. Videofilmkust München
Produzent: Peider A. Defilla
Die filmischen Dokumente
Als filmische Dokumente sind die Interviews in voller Länge im Lernforum des
NS-Dokumentationszentrum München kostenlos zu sehen und zu hören (Max-Mannheimer-Platz 1, 80333 München, Dienstag – Sonntag 10.00–19.00 Uhr).
Der Dokumentarfilm
Informationen zum Dokumentarfilm "Es geht durch die Welt ein Geflüster - ZeitzeugInnen der Münchner Revolution & Räterepublik 1918/19 berichten"
(Regie: Ulrike Bez 1989/2018) unter www.esgehtdurchdiewelteingefluester.de