BR Schlager


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Kriegsende 1945 | Schicksale Der Adlerwirt kapituliert

Als die Amis kommen, eilt er ihnen auf eigene Faust mit weißer Fahne entgegen. Josef Demharter, Wirt in der schwäbischen Provinz, ist ein bemerkenswert unerschrockener Mann. Seine Briefe zeigen eine in dieser Zeit ähnlich überraschende Qualität: Humor.

Von: Jenny Schack und Michael Kubitza. Archivauswertung: Gabriele Walter

Stand: 06.05.2015 | Archiv

Ichenhausen | Bild: picture-alliance/dpa

Ichenhausen an der Günz: Ein idyllischer Ort in Schwaben, etwas größer als das nahe Legoland, aber weniger Besucher. 5.327 Einwohner - vor 1945 sind es knapp halb so viele. Es gibt ein Schulmuseum, eine Storch-Webcam und zur Kommunalwahl 2014 macht ein Bäcker Schlagzeilen mit seinem "Wahlkreuz" aus Semmelteig. Weltgeschichte wird hier eher nicht gemacht.

Aber Geschichte passiert, überall. Und die Menschen verhalten sich dazu - mit etwas Mut und Menschlichkeit wie Josef Demharter, Braumeister und Wirt vom Gasthaus Adler. Wie oft in kleinen Orten ist der Wirt neben Pfarrer, Lehrer und Bürgermeister eine bestimmende Figur; manchmal ist er in Personalunion selbst Bürgermeister. Auch der Adlerwirt übt seit Juni 1945 das Bürgermeisteramt aus - auf Befehl der Besatzungsmacht, die ihn mit vorgehaltener Waffe zwangsverpflichtet. Die Amerikaner können sich keinen Besseren denken.

Ein menschlicher Pragmatiker

Seit 1919 saß Demharter, dessen beide Brüder im Ersten Weltkrieg gefallen waren, für die Bayerische Volkspartei im Stadtrat und weigerte sich 1933 beharrlich, in die NSDAP einzutreten. Lieber schenkte er fortan nur noch Bier aus, an Freund und Feind, und in Notzeiten Freibier. Er beherbergte Nonnen, die von den Nazis ihrer Lehrpflichten entbunden wurden und plötzlich ohne Unterkunft dastanden. Und er trat dafür ein, dass die Synagoge in Ichenhausen nicht abgefackelt wurde. Demharter war es auch, der als erster mit der weißen Fahne auf die Amerikaner zuging.

Vieles erfahren wir aus Briefen, die er fast täglich in gedrängter Schrift und Diktion an seinen Schwager schrieb. Heute sind sie im Besitz seiner Enkel; Gabriele Walter, Kulturreferentin der Stadt, hat sie ausgewertet. Sie zeigen, wie schleichend der Krieg in der schwäbischen Provinz Einzug hält, erst in Form von Einberufungen und Truppendurchmärschen. Dann Rationierungen, Einquartierung - die Küche des Adlerwirts wird zur Feldküche. Mitte April 1945 ist der Krieg dann endgültig da. Demharter schildert auch das plastisch und nicht ohne grimmigen Witz.

Briefe aus dem Untergang

14. April

Musterung: bedingt k.v.

"Ich bin jünger geworden, vom Landsturm II zu Landsturm I, von garnisionsverwendungsfähig zu bedingt kriegsverwendungsfähig. Es war nur ein "sich sehen lassen", bis zur Hüfte entkleidet. Ein Oberst als Arzt war der Befundmensch. ….

Der Oberstabsarzt (Mayer) war sehr nett. Er meinte u.a., ich hätte wohl ein gutes Fass Vollbier mitbringen können. Meine Antwort: der Akt erscheint mir nicht feierlich, dass derselbe besonders begossen werden müsste.

15. April

Bulldog-Karawane

Sonntag. Es rollen ununterbrochen Bulldogge, Autos durch unsere Straßen, mit Soldaten beladen, darunter Luible aus Hausen, der sich durch Zuruf bemerkbar macht. Beim Fragen eines Fahrers erfahre ich, dass dieselben nach Günzburg marschieren, um dort verladen zu werden. Man hört, an die Front, ich glaub es nicht, weil es ja Ausbildungsdivision ist. …..

Beim Sonntagsangriff wurde in Günzburg wiederum ziemlich Schaden angerichtet. ….. Die Günzburger kommen zum Teil nach hierher. Bitten um Bier usw.

17. April

Großer Durst

Heute war ein Andrang zum Bier holen, dass die Leute von 17 – 19 Uhr, wohl andauernd 30 Personen an der Schenke anstanden. … In 3 Wochen habe ich keines mehr zum abgeben. ...

Sonst verlief der Tag ohne besondere Vorkommnisse. Menschen und Möbeltransporte füllen die Straßen.

18. April

"Chef, jetzt ist der Krieg bald aus"

(Der Knecht) Peter hat sich wegen meines Weckens ¾ 6 Uhr krank gemeldet. Also bin ich Knecht, wieder einmal einen Posten mehr. Es geht alles vorüber. Heute war ich den ganzen Tag im Feld. …

Einmal zählte unsere Lady sechs Wellen 240 Flugzeuge! Dann einzelne und dann ein ganz schwerer Viermotorer allein auf weiter Flur. Der Pole meinte: "Chef, jetzt ist der Krieg bald aus, der fliegt allein umeinander und keine Jäger.“ ...

In Günzburg sind die Leute im Keller und können nicht herausgeholt werden. Ölwagen wurden auch getroffen, der Rauch und Qualm dringt bis zu uns herauf, Nordwestwind. Ulm scheint auch stark getroffen zu sein. Die hier Einquartierten erhalten während der Nacht noch Abmarschbefehl – bzw. Bereitmachung.

19. April

Fliegeralarm!

Viele viele Fliegermannschaften marschieren die Günzburger Straße entlang von Nord nach Süd, scheinbar werden sie alle den in unserer Gegend liegenden Einheiten zugeteilt. Die werden wohl nie einen kampferprobten, bereiten Infanteristen geben. Menschen bewegen sich von Günzburg her mit Handwagen und Habseligkeiten. Autos, Zivil und Wehrmacht. Es ist wieder einmal Hochbetrieb. Ausländer kommen aller Nationen.

Günzburg wird angegriffen, Ulm ebenfalls. In Ichenhausen zeigen sich auch Spuren. ...Beim früheren alten Kempfle hab ich mit einem Feuerwerker – auf Mitteilung hin – ein Bordkanongeschoss geholt. Beim Gärtner Müller Xaver fiel im Garten eine kleine Brisanzbombe. Die Schwägerin, eine Schwester der Frau Müller, hatte dort Wäsche aufgehängt. Die Wäsche wurde durchlöchert, besonders Einschlagtücher ...

20. April

"Ein herrlicher Tag, den Menschen zum Spott"

Die Panzerspitzen seien auf 7 km an Ulm herangerückt. Ein herrlicher Tag bricht an, den Menschen zum Spott. Alles grünt und die Hunnen, sie vernichten alles. Alles ist in Aufregung, als käme das Ende, derweilen geschieht nichts weiteres, als das, was die Deutschen anderen Völkern schon vorher antaten.

Eben erfahre ich, dass der Volkssturm aufgeboten sei. Nun heißt es eben, Kopf hoch, der Herrgott wird`s schon recht machen. Es ist 13.15 Uhr, der Radio gibt fortlaufend beinahe ohne Unterbrechung Fliegermeldungen, bald alle größeren Orte werden genannt, Tiefflieger, Bomber, Vorsicht usw.

21. April

Nächtliche Unruhe

Um 3/4 4 holen mich die Fliegersoldaten aus dem Bett. Ihr Gepäck soll nach Burtenbach gebracht werden. Der Sprecher, ein waschechter norddeutscher großschnautziger Wichtigmacher, will meine Einwände, der Knecht sei krank seit einer Woche, Magd Maria bei Operation, Bier muss nach Haslach, Edelstetten usw. nicht zur Kenntnis nehmen. Bier sei nicht wichtig, zuerst müssten die Soldaten an Ort und Stelle gebracht werden. Er meint, ob mir nicht auch noch ein Ohr oder Nase oder ein Bein halb weg wäre. Nachdem ich eingespannt habe, kam der Unteroffizier und sagte: “Meister, Sie können wieder ausspannen, wir fahren morgen“.

Flugblätter wurden heute Nacht von fahrenden Autos geworfen. Aufforderung zum letzten Widerstand. Die Leute sagen: "die Herren sollen nur selber kämpfen." ...

22. April

Schwein gehabt

Es geht mit einem Schlag die Meldung durch: Panzer in Günzburg! Ich konnte durch Anruf beim Stadtrat in Günzburg feststellen, dass dies nicht wahr ist. Erfahre hingegen, dass etwa 40 Panzer bei Lauingen durch seien, die Stadt selber übergeben sei, desgleichen Dillingen. Mit gewaltiger Erschütterung wird eine Detonation hörbar. Die Leute schreien, alles stiebt auseinander.

Die Küche sieht soviel Menschen wie noch nie. Den Köchen wird alles gegeben, was sie brauchen. Auch sie sind großzügig. Wir können kaum mehr an den Herd. Kolonnen und immer wieder Kolonnen. Alles auf Flucht und in Flucht. Unsere Köche mangeln einen ihrer Leute. Der hat abgehaut, sagen sie. Am Abend gab es Schweinsschnitzel. Sie sagen: "Das Schwein haben wir aus amerikanischer Gefangenschaft befreit.“

Die Erschütterung kam durch die Sprengung der Autobahnbrücke bei Leipheim – ein Meisterwerk.

Der 27. April: D-Day in Ichenhausen

Vom 23. bis zum 30. April schweigt der Briefschreiber. Aus dem Berichterstatter wird ein Hauptakteur. Am 27. April schreibt Demharters Tochter Wilhelmine in ihr Tagebuch: "Dies alles geschah ohne das Dabeisein meines Vaters, wo steckt der?"

Dies alles: Amerikanische Panzer rollen durch die Stadt - "die Neger, wir getrauten sie uns nicht anzuschauen." Ein Angestellter des Magistrats fordert "Weiße Fahnen raus!" - zugleich laufen Gerüchte, die SS setze zur Kapitulation beflaggte Gebäude unter Artilleriefeuer. Vorm Bräuhaus hängt ein Kissenbezug, die weiße Flagge auf dem Kirchturm holt Wilhelmine vorsichtshalber wieder ein. Dann sucht sie zusammen mit ihrer Freundin Roswitha den Vater:

"Wir kamen bis zur Günzbrücke, wo uns erst ein Toter überraschte, der an der linken Seite der Straße lag. Ein kleines Blutbächlein ist ihm über das Gesicht gelaufen. Jedenfalls ein Soldat, der durchbrennen wollte in Zivil. Mein Vater hatte ihn in der letzten Nacht noch angerufen, er solle sich von der Straße entfernen, sonst sei er ein Opfer des Todes, worauf er nichts zur Antwort gab und weiter ging."

Wilhelmine Demharter

Die SS, berichtet ein weiterer Zeuge, ist gnadenlos auch in der Stunde ihres Untergangs.

"Die SS-Soldaten ließen dahier kein gutes Andenken zurück, es waren besiegte, fliehende Leute. Sie nahmen, um sich zu sichern und schnell fortzukommen, den Leuten, auch Frauen und Kindern, die Fahrräder wahllos hinweg, auch Wagen, Autos und Pferd (Adlerwirt), requirierten Lebensmittel."

Aufzeichnungen von Heinrich Sinz

Als Wilhelmine den Vater endlich findet, scheucht der sie nach Hause. Wo er gesteckt hat? Aus mehrere Quellen formt sich dieses Bild: Als im Morgengrauen die Amerikaner anrückten, beschwor Demharter auf der Straße die Ichenhausener, ja nicht zu schießen. Dann schnappte er sich eine weiße Fahne und lief den Panzern entgegen. Alles auf eigene Faust - der damalige Bürgermeister hatte sich in seinem Keller versteckt.

"Der Ami ist schon wieder am Schnaps": Notizen aus der "Niemandszeit"

Niemandszeit nennt Demharter die Tage Anfang Mai. Er berichtet wieder selbst: dass Hitler in der Reichskanzlei "gefallen" sei; vom Ansturm befreiter "Ostarbeiter" auf die Kaufhäuser der Stadt; der Einquartierung der rückflutenden Soldaten in die Synagoge und das zum Lazarett umfunktionierte Untere Schloss.

"Des Kampfes müde, durchziehen sie in allen möglichen Kleidungen vom Gassenhauer bis zum Gentleman die Stadt. Der Amerikaner nimmt keine Notiz, obwohl er bestimmt annehmen muss, dass es Soldaten in Zivil sind."

Brief Josef Demharter

Dazu kommen immer mehr Flüchtlinge und Evakuierte - bald werden es ähnlich viele sein, wie es angestammte Ichenhausener gibt. Und auch dies: "Der Ami ist schon wieder am Schnaps". Die Besatzer laden "tüchtig auf", konfiszieren Möbel, Operngläser, auch Eier; manchmal gibt es Zigaretten dafür. Dafür haben schon am 5. Mai - drei Tage vor der "Gesamtkapitulation" - die Straßen ihre alten Namen zurück - die "Straße der SA" heißt jetzt wieder Sankt-Anna-Straße.

Der Wirt wird Bürgermeister

Dass er ab dem Sommer mit all diesen Dingen beruflich zu tun haben wird, weiß Demharter da noch nicht. Im Juni ernennen die Amerikaner ihn gegen seinen Willen zum Bürgermeister seiner Stadt. Was er - mehrfach mit breiter Mehrheit wiedergewählt - für 19 Jahre bleiben wird. Erst drei Jahre vor seinem Tod tritt er mit 74 Jahren vom Amt zurück.

Auch am Tag, als die NS-Herrschaft endgültig Geschichte ist, berichtet Josef Demharter aus Ichenhausen - mit für ihn ungewohntem Pathos:

"[Montag, 7. Mai] Der erste Sud Bier wird heute unter der amerikanischen Besatzung, allerdings ohne ihr Zutun oder Wissen, gemacht, um der Masse etwas für den Durst geben zu können. Ob ich es erlebe, zu brauen, ohne dass fremde Mächte den deutschen Boden besetzt halten?

Gegen Spätnachmittag hört man am Radio von einer Gesamtkapitulation, die den Ernst der Dinge dem Volke näher bringt. Furchtbar haben die deutschen Nichtskönner und Alleswisser ihr Volk in die Wüste hineingeführt. ... Der Schweizer Sender gibt eben die Meldung durch, dass von den alliierten Mächten der morgige Tag als Friedenstag 8.5.1945 begangen wird und für uns Beginn und Fortsetzung der schon in so großer Fülle vorhandenen Leiden und Kümmernisse. Gebe uns der Schöpfer Kraft, dies alles zu tragen. Gott sei gedankt, dass diese Tyrannen von Nazi weg sind."

Brief Josef Demharter


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