Kultur - Literatur


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Eckhard Henscheid zum Geburtstag Der Mann, den Reich-Ranicki "Idiot" nannte

Ist das jetzt eine Ehre, vom Literaturpapst beleidigt zu werden? Eckhard Henscheid, der Oberpfälzer, der die "Titanic" miterfand, könnte das so sehen. Der Virtuose von Krawall und Idylle zählt zu Bayerns großen Sprachjongleuren. Jetzt ist er 75.

Von: Michael Kubitza

Stand: 01.04.2019 | Archiv

Illustration: Eckhard Henscheid und ein Zitat von ihm | Bild: BR, picture-alliance/dpa, Montage: BR / Christian Sonnberger

Amberg-Raigering und Frankfurt City: Da steckt er also, der größte lebende bayerische Dichter scharfer Zunge. Einerseits in der von Schreibern in Eile gern "Mainhattan" genannten "Bankenmetropole" mit ihren meist unnötig hohen Häusern, Schulden, Buchmessebuchstapeln und Mordraten. Wo seit 2014 inmitten seiner Zech- und Wirkungsstätten sogar ein Lokal nach ihm benannt ist, das - eben - "Henscheid", Mainkurstraße 27, dessen Bewertungen im Netz auch dem Autor stehen würden ("Geheimtipp", "Klassiker mit neuem Gesicht", "da halfen nur noch recht gute Schnäpse").

"Eine einzige, langdurchgezogene lästerliche und alles in den Bann ziehende Natur- und Intellektualgemeinheit" (Henscheid über Amberg)

Andererseits ist Henscheid Bewohner eines stillen Gartens leicht abseits der sehr ehemaligen Hauptstadt der Oberpfalz, dem "lieben Amberg" (Henscheid), das, bescheiden in herrlichste Landschaft geduckt, mit seinen Höchstleistungen auf den Gebieten des Kirchen- und Autositzbaus, Brau- und Metzgereiwesens nur selten wuchert. Ein Stadt-Land-Gegensatz? Pole gar?
I wo.


Nach ein paar zu vielen Äppelwoi respektive Zoiglbieren verwischen sich solche Unterschiede gewaltig. Es geht ja überall um Liebe und Geld, Dummheit und Gott, Kunst und Wurst, Fußball und Musik, Liebe und Geld. Womit die Lieblingsthemen Henscheids genannt sind.

Als der Schwachsinn laufen lernte

Henscheid selbst wird gern Satiriker genannt, was er nach eigener Schätzung nur zu 30 Prozent ist und zu 70 Prozent daran liegt, dass viele ihn als Vertreter der "Neuen Frankfurter Schule" und Miterfinder des Satiremagazins Titanic kennen und lang nichts mehr von ihm gelesen haben. 

Sein kapitalster Bestseller liegt schon ein paar Jahre zurück: Die gut 1.000 Seiten starke "Trilogie des laufenden Schwachsinns" katapultierte den 32-Jährigen in den 70ern am laufenden Literaturbetrieb vorbei in die Verkaufslisten - das damals noch aufstrebende Kulturversandhaus Zweitausendeins landete mit Henscheids ersten drei Romanen einen Volltreffer, der bis heute 400.000 Mal gedruckt wurde. Man redete gern in jenen Jahren, nicht nur in Henscheids Büchern. Es muss sich herumgesprochen haben, dass da einer seine ganz eigene, saukomische Sprache gefunden hat, in der hoher Ton und niedere Beweggründe munter Trampolin springen. Schwer zu sagen, ob Frank Schulz und Sven Regner auch ohne Henscheid so klingen würden, wie sie klingen.

Buchtipps: Henscheid für Neu- und Wiederleser

1973 ff.

Die Vollidioten / Geht in Ordnung - Sowieso -- Genau --- / Die Mätresse des Bischofs

Ein großer Wurf, auch wenn man die kiloschwere Trilogie nur liest. Auf 1.000 Seiten bietet der Autor nur wenig Handlung und auch sonst nichts Wesentliches. Dafür aber eine Komik, welche die Niederungen des Alltags deutscher Werbetexter, Teppichhändler sowie der Schwestern Sabine und Susanne wie ein Juwel in die Hochsprache Dostojewskis und Gottfried Kellers fasst. Man schwadroniert, stellt sich an oder nach, trinkt Sechsämtertropfen und gibt partout die geliehenen 20 Mark nicht zurück, bis irgendwann ein Selbstmord passiert. Ein großer Knall? Ungerührt hält der Erzähler fest, ".... dass es in dieser Welt zwei Möglichkeiten gibt, mit einigermaßen sensationellen Empfindungen in einen menschlichen Körper einzudringen: den Beischlaf und die Kugel in den eigenen Kopf." Um sich zwei Zeilen später dann doch zu wundern, warum der Tote nicht wenigstens die Fußball-WM abgewartet hat. Mit einem Wort: "Weltliteratur" (Harry Rowohlt).

1983

Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte

Großer Fußball und kleinteilige Philosophie in einem einzigen schmalen Prosaband. 1983 konnte man mit Büchern, die das Fußballfeld zur Welt erklären, noch kein Stadion zuschütten; Henscheid war (als inoffizielle Doppelspitze mit Ror Wolf) dem Feld weit voraus.

Im zweiten Themenblock des Bändchens stellt Henscheid alles vom Fuß auf den Kopf und weist nach, dass auch die Philosophie nichts anderes als ein großes Spielfeld ist, auf dem der Autor der "Neuen Frankfurter Schule" die Kollegen der alten vorführt. Etwa in jener wunderbaren Szene, in der er die Wortdrechsler um Adorno in ihrer Lieblingsdisziplin üben sich lässt, "das Reflexivpronomen so weit wie möglich zu postponieren": "Das hört sich gut an, rief Erich Fromm und schied sofort aus."

1983

Dolce Madonna Bionda

Ach, die hoffnungslos Liebenden: Der junge Werther! Der alte Aschenbach! Der Witwer Viane, der in "Das tote Brügge" seiner verstorbenen Frau hinterherläuft. Und natürlich: Bernd Hammer (46), reisender Kulturredakteur, den auf Zwischenstopp im italienischen Bergamo ein rätselhaftes Grafitto aus der Bahn wirft: "Mosch". Mosch, Annemarie? Hammers vor 14 Jahren verlorene Geliebte? Ein Zeichen des Himmels? Hammer beschließt, ein bisschen länger in den labyrinthischen Gassen des Städtchens zu verweilen und der Sache alkoholgestützt auf den Grund zu gehen. Was er zu Tage fördert? Eckhard Henscheid in Hochform.

1985ff.

Dummdeutsch. Ein satirisch polemisches Wörterbuch

"Sprachkritik" - das Wort taucht nicht im Wörterbuch auf, das Eckhard Henscheid mit einigen Kollegen ab 1985 mehrfach erneuert herausgegeben hat, aber ungefähr darum geht es. Von "Abbauen" bis "Zukunftsorientiert" bietet das Wörterbuch so verblüffend kompetente Definitionen wie diese: "Minuswachstum - Ein Mann, der sich morgens vor dem Spiegel die Bartstoppeln mit dem Hammer durch die Backen treibt und von innen abkaut." Manchmal freilich zeigt sich auch die Redaktion überfordert ob der massenhaft im Sprachhumus von Bürostuben, Selbsthilfegruppen und PR-Klitschen nachwachsenden Doofstoffe: "Gebietskörperschaft - Was das ist, wissen wir auch nicht, klingt aber eklig oder?"

1988

Maria Schnee. Eine Idylle

Henscheids wundersamstes Buch. Vielleicht sein schönstes. Ein Mann spaziert durch Amberg, bleibt in der Pensionswirtschaft Hubmeier hocken und hängen. Hört den Stammgästen zu, verzehrt Schaschliks, quartiert sich ein. Passiert in Henscheids Texten seit jeher wenig Weltbewegendes - hier hält die Welt beglückt den Atem an. Sprache und Stimmung oszillieren zwischen Eichendorff (im Hellen) und Kafka (im Dunklen) - als verfolge man halbtrunken durch Butzenglas ein Geschehen, das sich nicht offenbaren will. Ach ja: später folgt eine Art Wallfahrt, und ein bisschen was passiert doch noch.

1997

Kulturgeschichte der Missverständnisse

Und wieder seiner Zeit voraus: Noch bevor sich Verlage und TV-Illustrierte mit Aufklärungsliteratur à la "Sieben Irrtümer über Cora Schumacher" auf den Leser schmissen, wagte Henscheid, unterstützt von Gerhard Henschel und Brigitte Kronauer, eine komplette Kulturgeschichte der Missverständnisse: Atlantis? Hitler? Onanie? Alles missverstanden. Habermas? Die Mischerlichs? Alles Missversteher. Kultur, so die Autoren, beruht auf Deutung, also Fehldeutung. Henscheid weiß es besser, ist geistreich, anmaßend, ungerecht. Muss man nicht mögen; wer's doch tut, kann gleich noch Henscheids und Kronauers "Jahrhundert der Obszönität" (2000) und Henscheids Polemiken "Die Nackten und die Doofen" (2003) lesen.

2013

Denkwürdigkeiten

Eine gefühlvolle Autobiografie, zugleich eine Geschichte der alten Bundesrepublik: Geschichten, Gerüche, Gerüchte, Richtigstellungen, ein Plädoyer für "das Viele und Durcheinanderne" in Welt und Literatur und eine schonungslose (Selbst-)Kritk des Babyfotos: "Eigentlich war dieser Kopf doch aber eine Widerlegung der Kulturnation und des Menschengeschlechts." - "Eckhard Henscheids Seufzer, sieht man hier, sind unbedingt schöner und wertvoller als seine Brüller." (Dietmar Dath in der FAZ)

Viel Feind, viel Arrrrgh

In seiner produktivsten Zeit, den 70er- und 80er-Jahren, sind Henscheids Titanic-Breitseiten nur die Spitze des Eisbergs. Auf sein Konto gehen "Zeit"-Kolumnen, Musikessays, kluge Analysen, wüste Beschimpfungen, dicke Romane. Publikum und Feuilleton reagieren ungefähr so, wie es der Autor Klaus Cäsar Zehrer beschreibt: "Kein anderer Autor vermag es, mich zu je einem Drittel zu begeistern, abzustoßen und zu langweilen - ein alles in allem doch verlockender Gefühlscocktail." Vortäuschung falscher Tatsachen kann man Henscheid nicht vorwerfen - man ahnt, worauf man sich einlässt, wenn man Titel kauft wie "Verdi ist der Mozart Wagners" (1979) oder "Beim Fressen beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul" (1988).

1980: Henscheid als schreibender Offizier der 'Titanic'

Fleißig sammelt Henscheid Fans und Feinde. Dem Kollegen Botho Strauß attestiert er "tranige Edelschickeriaprosa", Grass nennt er "Wichtigkeitskasper". Heinrich Bölls Sohn René lässt Buchpassagen schwärzen, die den Vater als "steindummen, kenntnislosen und talentfreien Autor" beschreiben. Marcel Reich-Ranicki (Henscheid: "Literaturpapst? Kegelbruder!") adelt den Oberpfälzer mit der öffentlichen Anrede "Idiot".

Die Zeit holt auf

Comicartige Krawalllust überfällt den Autor vor allem, wenn es gegen "Gutmenschen" geht - einen Begriff, den er schon in den 80ern gern verwendet. Nicht nur damit ist Henscheid lange seiner Zeit voraus. Er etabliert das Genre des Kneipenromans, pflegt Entschleunigung, wo andere im Pop-Tempo brausen und schreibt klug über Fußball, als die Redaktion der "Elf Freunde" noch im Kindergarten kickt.

Inzwischen hat die Zeit ihn eingeholt. Die Zeitgenossen gratulieren sich dazu, indem sie Henscheid mit dem Italo-Svevo-Preis (2004) und dem Jean-Paul-Preis (2009) dekorieren. Noch nicht, wie Henscheid wachsam konstatiert, mit dem Literaturnobelpreis, den er doch zu gern ablehnen würde, um nicht mit Minderbegabten wie der "spätfeministisch-romanfaselnden Neokitschieuse" Jelinek (Henscheid) in einem Satz genannt zu werden. Kann ja noch kommen - den Schwachsinn in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.

Lebensdaten

*14. September 1941 in Amberg/Oberpfalz
lebt überwiegend in Amberg


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