Roman "Das Feld" Robert Seethaler lässt Tote ihr Leben erinnern
"Das Feld" im neuen Roman des österreichischen Bestseller-Autors Robert Seethaler, ist genaugenommen ein Friedhof: Konfrontiert mit den Grabsteinen der Menschen, die er seit langem kennt, meint der Erzähler die Toten reden zu hören.
Sie tauchen in seinem Kopf auf und wieder ab: die Gesichter der anderen Paulstädter, vage Erinnerungen an sie. Sie alle haben in seiner Nähe gelebt – im fiktiven Ort Paulstadt – sie haben sich den Gehweg der Marktstraße mit ihm geteilt, denselben Schuhsalon am Stadtrand besucht und den Blumenladen mit seiner Verkäuferin, der immer ein wenig Erde unter ihren Fingernägeln hing. Mittlerweile aber sitzt er allein auf einer Bank unter einer Birke und blickt auf dieses Feld voller Grabsteine, das übrig geblieben ist von seinen Paulstädtern.
"Die Wahrheit ist: Er war überzeugt davon, die Toten reden zu hören. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber er nahm ihre Stimmen ebenso deutlich wahr wie das Vogelgezwitscher und das Summen der Insekten um ihn herum. Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden."
Aus: 'Das Feld' von Robert Seethaler
Diese Stimmen füllen den neuen Roman von Robert Seethaler – jedes Kapitel eine andere, jedes Kapitel ein neues Fragment. Denn es bleiben kurze Einblicke in die Leben, Episoden, die eher Stimmungen einfangen, als dass sie eine vollständige Geschichte erzählen. Eine Stimme beispielsweise, der Gemüsehändler im Ort, erzählt über seine Kunden: Wie sie die Pfirsiche berührten oder an den Nüssen rochen – all das beobachtete er und lernte sie so, Tag für Tag, ein wenig besser kennen. Und die Frau im Ort, die über die Jahre 67 Männer 'ihre' nannte, erinnert sich an das Gefühl, in deren Armen zu liegen. Wieder eine andere Stimme bemerkt bloß: "Idioten".
Seethalers Vorbild: die "Spoon River Anthology"
Zwei Zeilen der "Spoon River Anthology" von Edgar Lee Masters eröffnen den Roman: Diejenigen, erklärt Masters da lakonisch, die um die Gräber herumschlendern, denken, sie verstünden etwas vom Leben. Der US-Autor hatte schon 1915 die Toten einer Stadt zu Wort kommen lassen und so das Bild einer amerikanischen Kleinstadt gezeichnet. Seethaler beeindruckte diese Dichtung so sehr, dass er – auf seine Art – etwas daraus machen wollte. Und so findet man einige Anspielungen auf das amerikanische Vorbild, aber doch einen ganz eigenen Ton: Seethaler reiht hier rund 30 Stimmen aneinander, die – sehr unaufgeregt und in angenehm schlichter Prosa – über das eigene Leben erzählen, aber auch über die Stadt, die sie miteinander verbindet.
Ein bisschen fühlt es sich an, als werfe einen dieser Roman in eine unbekannte Familie. Die Verbindungen zwischen den Menschen, alte Vorbehalte und stille Wünsche, fügen sich erst langsam zusammen. Immer wieder blättert man zurück, um noch einmal die verschiedenen Eindrücke desselben Erlebnisses zu lesen, oder um sicher zu gehen, ob man sich diesen Namen richtig gemerkt hat, der bisher unbedeutend schien und plötzlich wieder auftaucht. Hin und wieder liest man aber auch zwei ausführliche Erinnerungen an ein gemeinsames Leben: die von Martha und Robert zum Beispiel.
"Sie war der Meinung, wir wären wie zwei auseinanderstrebende Äste eines Stammes. Aber das stimmt nicht. Wir hatten keine gemeinsamen Wurzeln. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir dieselbe Luft atmeten. Jahrelang standen wir nebeneinander zwischen Regalen voller Schuhe, die mich nichts angingen, schliefen in einem Bett, aßen an einem Tisch und blickten durch das immer gleiche Fenster auf die immer gleiche Zubringerstraße. Ein halbes Leben verbrachten wir in einem Raum, ohne uns wirklich zu berühren."
Aus: 'Das Feld' von Robert Seethaler
Kurz zuvor hatte sich Martha an dieses Leben erinnert – daran, dass ihr Roberts kleine Hände aufgefallen waren, als er auf dem Marktplatz saß. Hilflos wirkten sie damals und hilflos blieben sie, als er später an ihrer Seite Schuhe verkaufte oder sich zu ihr ins Bett legte. Dennoch nahmen diese Hände sie für den jungen Mann ein. Warum? Rätselhaft.
Ein heikles Unterfangen
Seethalers Geschichten halten ohnehin Abstand von letzten Begründungen, die Lebenserzählungen sonst gerne begleiten. Über das Leben entscheidet hier oft ein unbedeutender Moment: eine flüchtige Berührung, ein Blick aus dem Augenwinkel, ein unbedeutendes Detail, das einen aufmerken lässt. Der Roman verzichtet also auf vieles, was seine Anlage ermöglicht hätte: auf pathetische Visionen vom Sterben, aber auch auf tiefere Einsichten in Lebenszusammenhänge. Vielmehr denkt eben der Mann, der zu Beginn unter der Birke Platz nahm und den Paulstädtern zuhörte, am Ende über das heikle Unterfangen nach, das Robert Seethaler hier eingegangen ist:
"Als Lebender über den Tod nachdenken. Als Toter vom Leben reden. Was soll das? Die einen verstehen vom anderen nichts. Es gibt Ahnungen. Und es gibt Erinnerungen. Beide können täuschen."
Aus: 'Das Feld' von Robert Seethaler
Und gerade das zeichnet diesen Roman aus: Dass er nicht mehr von sich verlangt oder vielleicht gar nicht mehr für möglich hält als das: Ahnungen, Erinnerungen, Täuschungen aus dem und über das eigene Leben zu erzählen.
Robert Seethalers Roman "Das Feld" ist bei Hanser Berlin erschienen.