Jüdisches Leben in Bayern Neues Wachstum: Zuwanderung aus Osteuropa
Ende der 1980er-Jahre waren die überalterten jüdischen Gemeinden in Deutschland nur noch sehr klein. So hatte die Israelitische Kultusgemeinde Nürnberg 1989 etwa 300 Mitglieder, die in Hof nur noch 36. In München waren es rund 4.000. Nach 1990 stiegen die Zahlen wieder kräftig an, vorwiegend durch Emigranten aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Das hing einmal damit zusammen, dass der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow im Rahmen seiner Perestrojka auch die Ausreisepolitik liberalisierte.
Zudem kam der Zentralrat der Juden in Deutschland in Verhandlungen mit der Bundesrepublik zu der Vereinbarung, dass Juden aus den Ländern der ehemaligen UdSSR hierzulande aufgenommen werden konnten. Sie erhielten den Status von Flüchtlingen, "Kontingentflüchtlingen", so der Verwaltungsbegriff.
Das erleichterte für die Auswanderungswilligen die Einreise nach Deutschland erheblich. Allein nach Bayern emigrierten bis 2004 etwa 30.000 Juden. Längst nicht alle schlossen sich jüdischen Gemeinden an. Dennoch wuchsen diese zum Teil um mehrere Hundert Prozent. So hatte die Gemeinde Nürnberg 2009 knapp 1.800 Mitglieder, Hof über 400, München fast 10.000. In deutschen Städten begann jüdisches Leben wieder zu florieren. Alte Synagogen wurden wiedereröffnet oder - wie in der bayerischen Landeshauptstadt - in repräsentativer Form neu gebaut.
Wachstumsbremse Sozialprognose
Bis 2004 war für die Einreise lediglich eine Geburtsurkunde notwendig, derzufolge man Jude ist oder mindestens einen jüdischen Elternteil hat. 2005 trat das neue Zuwanderungsgesetz in Kraft, das die Kontingentflüchtling-Regelung ersetzte. Nun entscheiden ein Kriterienkatalog und ein Punktesystem über die Aufnahme. Das heißt, dass seitdem zusätzlich der Nachweis von Deutsch-Grundkenntnissen, eine Aufnahmebescheinigung einer jüdischen Gemeinde und eine "positive Integrationsprognose", so die amtliche Bezeichnung, erforderlich sind. Ausgenommen davon sind Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
Vor allem die Sozialprognose wurde bei ihrer Einführung heftig diskutiert. Durch sie wollte der deutsche Staat das Risiko minimieren, dass Einwanderer hier zu Sozialhilfeempfängern werden. Manche jüdische Verbände reagierten darauf mit der besorgten Frage, ob nur noch wohlhabende Juden nach Deutschland emigrieren dürfen? Tatsächlich verringerte sich die Zuwanderung von Juden drastisch. Beispiel Bayern: Bewegten sich die Zahlen von 1994 bis 2005 zwischen 1.000 und 3.500 pro Jahr, kamen seit 2006 jährlich weniger als 100.
Dass ein Zusammenhang zwischen dem starken Rückgang der Einreise von Juden und dem Instrument "Integrationsprognose" besteht, bestätigt Paulette Weber, Leiterin des Sozialreferats der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Und "manche eigentlich Ausreisewillige stellen erst gar keinen Antrag, weil die Hürden zu hoch sind", ergänzt sie. Auch ältere Antragsteller hätten nur geringe Chancen, da ihre Möglichkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt sehr begrenzt sind. Zwar hätten viele Juden in den Ländern der ehemaligen UdSSR einen akademischen Hintergrund, doch das Problem sei, dass ihre Abschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden.
Nicht ohne meine jüdische Mutter: Anerkennung laut Religionsgesetz
Wer entscheidet, welcher Immigrant als Jude gilt? Aus politischer Sicht dürfen prinzipiell alle Personen nach Deutschland einreisen, die von einem jüdischen Elternteil abstammen oder staatlicherseits ihre jüdische Herkunft nachweisen können. In der ehemaligen Sowjetunion und in anderen osteuropäischen Ländern mit kommunistischer Vergangenheit galt das Judentum als Nationalität und wurde - diskriminierend - im Pass speziell vermerkt.
Nach der jüdischen Religionslehre Halacha gilt aber nur als Jude, wer von einer jüdischen Mutter abstammt oder nach den einschlägigen Regeln eines orthodoxen Rabbinatsgerichts zum Judentum übergetreten ist. Viele der Neuzuwanderer werden deshalb von jüdischen Gemeinden nicht als Mitglieder anerkannt.
Künftig "russisches" Judentum in Deutschland?
Schulklasse in der Jüdischen Gemeinde Regensburg
Ist aber einmal der Sprung nach Deutschland geschafft - das betrifft nun meist jüngere Juden - verlaufe die Integration vorbildlich, betont Paulette Weber. Eine gute Ausbildung hierzulande, Gymnasium und Studium, seien die Regel. Und wer den Anschluss an eine jüdische Gemeinde sucht, werde dort bestens betreut. Interessierte können auch sprachliche Fortbildung oder fachliche Unterstützung fürs religiöse Leben in Anspruch nehmen - etwa bei den Regeln der Halacha, der jüdischen Religionsgesetze. Vielen Immigranten fehlen diese Kenntnisse, da in der Sowjetunion religiös praktizierende Juden diskriminiert wurden. Aufgrund der Zuwanderung dominieren Juden aus Osteuropa inzwischen zahlenmäßig viele jüdische Gemeinden hierzulande.
Die Tradition des deutschen Judentums werde dadurch auf Dauer durch ein russisch geprägtes ersetzt, meint der jüdische Historiker Julius Schoeps. Diese Prognose teilt Paulette Weber nicht, denn: "Seit der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten gibt es ein deutsches Judentum, wie es vor dem Krieg gelebt hat, nicht mehr."