Abendläuten revisited Ein Archiv-Schatz wird gehoben
Vor 60 Jahren lief im Fernsehen die Reihe "Abendläuten". Die Kamerateams waren dafür in ganz Bayern unterwegs und fingen neben dem Läuten der Glocken auch alltägliche Situationen ein. Ein Archiv-Schatz, möchte man meinen. Aber: Von den meisten Beiträgen ist nur noch das Drehmaterial vorhanden, der Ton fehlt – und damit jeder Hinweis darauf, wer eigentlich zu sehen ist. Kann man daraus trotzdem berührendes und spannendes Fernsehen machen? Die Redaktion "Zwischen Spessart und Karwendel" hat es gewagt – und geschafft!
Das "Abendläuten" war eine der ersten Reihen, die der BR von 1955 bis 1961 in der "Münchner Abendschau" sendete, dem Regionalfenster im ARD-Gemeinschaftsprogramm. Insgesamt waren es knapp 200 Beiträge mit einer Länge von drei bis acht Minuten, in denen neben den Kirchen oft auch die Menschen zu sehen waren, die in den Dörfern lebten: Bauern, Schulkinder, Holzarbeiter, Hausfrauen. Diese Aufnahmen verschwanden im Archiv, und bis auf wenige Ausnahmen, die inzwischen digitalisiert wurden, hat sie kein Mensch mehr angeschaut.
Bilder ohne Ton
Die Bestände zu sichten ist manchmal frustrierend, denn erhalten ist oft nur das Bild - ohne Ton. Damit fehlen auch die Informationen, wer auf den Bildern zu sehen ist. Auf den ersten Blick sind diese historischen Aufnahmen für eine Ausstrahlung verloren. "Zwischen Spessart und Karwendel" hat sich aber nicht abschrecken lassen. Die Autorin Sandra Wiest ist in die Orte gefahren, in denen der Bayerische Rundfunk vor 60 Jahren schon einmal zu Besuch war. Wie haben sie sich verändert? Was ist aus den Menschen geworden, die damals im Fernsehen zu sehen waren? Die Frage war aber auch: Ist es das Produktionsrisiko wert? Finden wir nach 60 Jahren überhaupt noch jemanden, der sich an die Dreharbeiten und an die gefilmten Menschen erinnert? Eine Kontaktperson wurde deshalb immer vorrecherchiert, der Rest hat sich spontan ergeben.
Und was ist dabei herausgekommen?
Als das "Abendläuten" lief, hatten die Leute meist noch keine eigenen Fernseher. Sie schauten im Wirtshaus fern - wenn dort der Apparat gerade funktionierte. Eine Frau aus Münster bei Straubing beispielsweise hatte ihren Auftritt nie gesehen. Das Wiedersehen mit ihrem jüngeren Ich war ein berührender Moment für sie.
Aber der Erkenntnisgewinn geht über solche bewegenden persönlichen Geschichten weit hinaus. Der Vergleich von damals und heute zeigt auch, wie sich Bayern verändert hat: Wie alte Bausubstanz verschwunden und Siedlungen gewachsen sind. Wie viele Wirtshäuser und Geschäfte nicht mehr vorhanden sind und mit ihnen die Orte, an denen die Dorfgemeinschaft sich traf. Wie sich die Berufe verändert, wie sich aber auch die Lebensbedingungen verbessert haben. Der Blick zurück ins Jahr 1956 ist oft wie der in eine andere Welt: ohne Autos, ohne befestigte Straßen, ohne Waschmaschinen – dafür zum Beispiel mit Frauen, die noch selbstverständlich ihre Alltagstracht tragen.
"Eine wundervolle Idee, typisch BR, ihr seid einfach Spitze" schreibt ein User auf Facebook. Der Aufforderung: "Bittschön, mehr davon!" kommen wir natürlich gerne nach.
So wurde damals gearbeitet
Autor eines Großteils der "Abendläuten"-Beiträge war Gerhard von Ledebur, der großartige Beobachter, der bis Anfang der 1990er Jahre für das Bayerische Fernsehen tätig war. Schade, dass seine Kommentare größtenteils nicht mehr erhalten sind. Aber auch andere Namen tauchen im Medienbroker auf: Alois Kolb, Erica Reese oder Horst Dallmayr.
Es war nicht alles authentisch, was die Kollegen drehten, inszeniert wurde auch damals schon. In Münster, einem Ortsteil von Steinach bei Straubing, sollte ein Kind zu spät in die Schule kommen. Die Rolle bekam derjenige, der die beste Idee für eine Ausrede hatte. Die zwölfjährige Gertraud Watsl gewann das Casting. "Unsere Uhr geht falsch," erklärte sie schließlich im Fernsehen dem Lehrer. Obwohl das gar nicht stimmte. Lohn für diesen Auftritt war eine Tafel Schokolade – allerdings nur eine kleine.
Was Fernsehen bewirkt ...
Eine unangefochtene Autorität schien das Bayerische Fernsehen damals noch zu sein: In Berghofen bei Sonthofen im Allgäu wunderten sich die Einwohner sehr, dass der Griebel Natzl, ein alter Senn und Almwirt, mit dem nicht zu spaßen war, für das Fernsehen sogar mehrmals Schau gelaufen ist - und das auch noch vor einem fremden Hof.