History am Herd: Radiowissen kocht Geschichte Schnepfenpastete von 1871
Iska Schreglmann findet im Nachlass ihrer Mutter ein altes Kochbuch – und beginnt zu recherchieren. Im Radiowissen-Podcast "Rezepte des Überlebens" erzählt sie die Geschichte ihrer Familie, in der es ständig ums Essen ging. Sie findet heraus, warum das so war und wieso das auch viele andere von uns betrifft. Am Ende steht sie mit ihrem Sohn in der Küche und kocht wie anno 1871.
Falsche Schildkrötensuppe mit gekochtem Kalbskopf, Krebswürstchen, Sauerkraut mit Lerchen, Tauben in Blut – an aus heutiger Sicht kurios klingenden Rezepten mangelt es nicht im "Lindauer Kochbuch", einem Werk für die "feine, bürgerliche Küche" im 19.Jahrhundert. Wer es sich leisten kann, bringt damals vor allem Fleisch auf den Tisch.
Ein Vegetarier in Experimentierlaune
Für den Podcast soll das alte Kochbuch nach langer Zeit wieder zum Leben erweckt werden – und zwar gemeinsam mit dem jüngsten Mitglied des Familienclans, dem 25-jährigen Ben. Der Sohn von Iska Schreglmann ist allerdings überzeugter Vegetarier.
Nach anfänglichem Zögern siegt jedoch schließlich die Neugier darauf, was die Ur-Ur-Urgroßeltern gerne aßen. Ben springt über seinen Schatten und ist bereit, mit seiner Mutter eine Pastete mit Waldschnepfen nach einem Rezept von 1871 zuzubereiten. Die zierlichen Wildvögel gelten auch heute noch als Delikatesse.
Induktionsherd statt Holzofen
Es wird ein Koch-Experiment, das etliche Stunden Ton-Aufnahmen und viele Erkenntnisse mit sich bringt. Um eine möglichst authentische Erfahrung zu machen, verzichten Mutter und Sohn bei der Zubereitung auf moderne Hilfsmittel und setzen - statt dem elektrischen Mixer - Mörser und Siebe ein.
Schnell wird klar: Wer vor 150 Jahren kochte, brauchte offenbar nicht nur Geduld, sondern auch extrem viel Zeit. Zumal die meisten Mengenangaben im Buch erahnen lassen, dass meist für Großfamilien oder viele Gäste gekocht wurde.
Zubereitung und Lagerung sind damals ohne fließendes, warmes Wasser und ohne Kühlschrank sicher um einiges beschwerlicher als heute.
Passables Geschmacks-Ergebnis
Nach insgesamt acht Stunden Kochen und Backen ist die Schnepfenpastete fertig. Ein angenehmer Duft durchströmt die Küche.
Ben ist erst skeptisch, probiert dann aber doch ein Stück der Pastete. Sein Resümee: "Ich finde, es schmeckt ganz gut, vor allem der Teig. Aber mir tut es um die Schnepfen leid. Vielleicht könnte man ja die Füllung mit gebratenem Tofu ersetzen …?"
Unterernährung nach dem Zweiten Weltkrieg
In dem dreiteiligen Podcast wird aber längst nicht nur gekocht. In "Rezepte des Überlebens" geht es auch um Hunger-Erfahrungen in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Iska erfährt, dass ihre Mutter und ihr Onkel als Kinder nicht genug zu essen hatten, fährt sie ins Dorf ihrer Vorfahren nach Mittelfranken und recherchiert: Wie hielten sich die Menschen im Hungerwinter 1946/47, der ganz Europa erfasste, über Wasser? Dabei wird klar: Auch 80 Jahre nach Kriegsende prägen die Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern in vielen Familien immer noch den Umgang mit dem Essen.
Kochen im Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts
"In der Küche des Bürgertums, zu der auch dieses Kochbuch von 1871 gehört, hat man grundsätzlich mit viel Fleisch gekocht. Zum einen galt Fleisch damals als das beste und gesündeste, das man haben kann. Außerdem konnte man mit exotischen und aufwändigen Fleischgerichten zeigen, wer man ist. Viele Esseneinladungen waren damals die reine Performance. Gerade zu Beginn der Kaiserzeit hat man gerne in abenteuerlich vielen Gängen präsentiert, was man sich leisten kann. Man wollte die Gäste faszinieren. Im Grunde sind diese Esseneinladungen oft auch Auftritte der Herrin des Hauses, die zeigt, in welchen Sphären man sich bewegen kann. Denn man hat sich damals letztlich an der Adels-Kultur, an höfischer Kultur orientiert, wo ja auch groß aufgekocht wurde. Im Gegensatz zum Adel hatte man ja im Bürgertum keine Geburtsprivilegien, man musste also sozusagen selbst für die Verbreitung des eigenen Glanzes sorgen. Und das geschah auch durch eine aufwändige Art des Kochens."
Dr.Thomas Morawetz, Radiowissen-Redakteur und Historiker
Rezept-Ausschnitt "Pastete von Schnepfen", aus: "Lindauer Kochbuch" von Christine Charlotte Riedel, 1871
"Drei oder vier rein geputzte Schnepfen werden mit Salz und Pfeffer eingerieben, und mit 140 Gramm (1/4 Pfund) verschnittenem Speck, zwei Lorbeerblättern, einem Sträußchen Thymian und zwei großen, in Scheiben geschnittenen Zwiebeln in einem Kastrol zugedeckt gedünstet, bis sie gelb geworden. Nachdem sie herausgenommen, wird in den zurückgebliebenen Saft zwei Kochlöffel Mehl gerührt, dies mit einem Gläschen gutem alten Wein und zwei Schöpflöffel Fleischbrühe abgerührt, eine halbe Stunde langsam gekocht, hernach durchs Sieb getrieben und bei Seite gestellt. Nun wird eine Kalbsmilz mit einem Blechlöffel ausgeschabt und damit 280 Gramm (1/2 Pfund) abgehäutete, feingeschnittene, aber einige mal überwiegte Kalbsleber in einem Stückchen Butter schnell geröstet, bis beides nicht mehr blutig, aber noch saftig ist. So lässt man es erkalten, verwiegt es und stößt es ganz fein im Mörser, nimmt es dann in eine Schüssel, rührt zwei ganze Eier, zwei Eigelb und das gehörige Salz daran, verdünnt es mit der Hälfte der obigen Sauce samt ihrem Fett (was einen Schöpflöffelvoll ausmachen kann), streicht alles durch ein Sieb, und mengt einen halben Kaffeelöffel feingewiegte Zitronenschale und eben so viel feingewiegten oder pulverisierten Thymian darunter. Als dann wird ein Pastetenteig bereitet …"
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Das Team des Podcasts "Rezepte des Überlebens"
Redaktion: Nicole Ruchlak und Yvonne Maier
Redaktionsleitung: Susanne Poelchau (Red. Grundbildung, Geschichte und Gesellschaft)
Ton und Technik: Robin Auld
Regie: Ron Schickler