Recherchieren im Krisengebiet Auf der Spur der letzten Christen im Nordirak
Seit fünf Jahren recherchieren Journalisten von report München im vom Krieg und Terror zerrissenen Nordirak. Die Langzeitbeobachtungen zeigen, wie Menschen im Krieg leben und dabei versuchen, einen letzten Rest von Hoffnung und Normalität zu bewahren. Hier ein Erfahrungsbericht von BR-Journalist Stefan Meining.
Es sind biblische Landschaften, die mitunter wie gemalt wirken: kahle Bergrücken, lieblich grüne Flusstäler und uralte Klöster, die kilometerweit zu sehen sind. Dazwischen liegen ausgebrannte Fahrzeugwracks und Ruinen. Dabei zählt die Ninive-Ebene im Nordirak zu den ältesten Siedlungsgebieten der orientalischen Christenheit. Bereits im ersten Jahrhundert entstanden hier die ersten Kirchengemeinden.
Krieg und Terror lange vor dem Einmarsch des IS
Doch seit zehn Jahren herrschen hier Tod, Terror und Krieg. Seit 2012 recherchiert report München über die christliche Minderheit in dieser Region. Als Reporter erlebte ich, wie sich die Situation dramatisch verschlechterte. 2014 wurde die Ninive-Ebene vom IS beinahe vollständig eingenommen. Die überlebenden Christen flohen in den Westen oder richteten sich in Flüchtlingslagern ein. In Erbil, der kurdischen Metropole im Nordirak, konnte ich mit vielen dieser Menschen sprechen. Nie vergessen werde ich die Begegnung mit einer Mutter: Ein IS-Mann in Mossul riss ihr die jüngste Tochter Kristina aus dem Arm.
Im März kehre ich in die Ninive-Ebene zurück. Es ist meine fünfte Reise in die Region. Der IS ist militärisch geschlagen. Doch die meisten Christen glauben nicht an einen Neuanfang. Eine funktionierende Infrastruktur gibt es nicht.
Übernachtung in einem ehemaligen IS-Stützpunkt
Ich übernachte meist in sicheren Häusern in Begleitung von Bewaffneten oder hinter den dicken Mauern von Klöstern, die die Jahrtausende überdauert haben. Von hier aus planen wir dann unsere Drehreisen in die Umgebung. Das Kloster Mar Matta bei Mossul ist so ein heiliger Ort. 2014 drängten sich hier die Flüchtlinge. Die zweite Nacht verbringen wir in einem Haus in dem Landstädtchen Qaraqosh in der Ninive-Ebene. Vor der Befreiung befand sich in dem Einfamilienhaus ein Stützpunkt des IS. Das Haus wurde komplett renoviert. Aber ein komisches Gefühl ist es schon, in einem Gebäude zu übernachten, in dem sich IS-Schmierereien unter der frischen weißen Farbe abzeichnen.
Mit der Gefahr im Krisengebiet richtig umgehen
Bin ich nervös? Natürlich ist es schon recht merkwürdig hinter der Frontlinie die Fahne des IS in der Entfernung flattern zu sehen. Eigenartigerweise bin ich in echten Krisengebieten so konzentriert, dass ich meine Anspannung zunächst überhaupt nicht spüre. Ich höre nur plötzlich alles klarer und nehme meine Umgebung viel intensiver wahr. Erst wenn ich dann im Flugzeug sitze oder in München das Material sichte, stellt sich so etwas wie eine Anspannung ein. Das Leid der Menschen vor Ort verdränge ich.
Anekdoten für's Langzeitgedächtnis
Im Langzeitgedächtnis bleiben vor allem skurrile Anekdoten hängen; wie der Besuch in einem Alkoholladen in Qaraqosh im Nordirak. Nicht selten betreiben Christen derartige Läden. Als ich meinen Fotoapparat zückte, verließen plötzlich zwei Männer fluchtartig das Geschäft und rasten mit ihrem Auto davon. Zuerst war ich völlig überrascht. Erst danach wurde mir klar: Die beiden waren Muslime und hatten vermutlich Angst, ertappt zu werden. Ich kehrte mit unseren Begleitern und drei Flaschen Bier zurück in unsere Unterkunft.
Gefährliche Recherche-Reisen
Immer wieder werde ich gefragt: Ist so eine Reise denn gefährlich? Die aktuelle Reisewarnung des Auswärtigen Amtes ist auch diesmal eindeutig: In der Ninive-Ebene muss "weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und irakischen Sicherheitskräften gerechnet werden. […] Hinzu kommen aktuelle Spannungen zwischen irakischen Streitkräften und regional-kurdischen Peshmerga." Aus diesem Grund begleiten mich immer bewaffnete Personen. Dies können Privatleute sein, die ganz offiziell Waffen tragen dürfen, oder auch Polizisten. Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich mit Personen reise, die ich seit Jahren kenne, denen ich vertraue und auf deren Rat ich höre. Alleine würde ich mich nie in Krisengebieten bewegen; vor allem nicht in der Nacht. Als ich 2014 in Syrien war, hörte ich die Geschichte einer japanischen Kollegin, die sich in der Stadt Qamsihli alleine umsehen wollte. Die junge Frau wurde nie wieder gesehen.
Tee trinken und auf eine Genehmigung warten
Nach Mossul reisen wir in Begleitung von schwer bewaffneten Polizisten und mit eigenen Vertrauten. Wir drehen in einer vom IS völlig verwüsteten Kirche, die als Parkgarage benutzt wurde. Einfach so hinfahren können wir nicht. Zuvor mussten wir stundenlang in einer Polizeiwache Tee trinken und auf eine Genehmigung warten: das übliche Prozedere.
Hinzu kommt in befreiten Städten oder Dörfern das Risiko, Opfer einer sogenannten IED, also neudeutsch einer "Improvised Explosive Device" zu werden. Hierbei handelt es sich um kleine, versteckte Sprengfallen. Diese IEDs sind meistens nicht tödlich. Dennoch kann man sehr schnell ein Bein oder beide Beine verlieren. Im Nordirak und in Syrien wurden diese IEDs massenhaft gefunden. Aus diesem Grund passe ich immer sehr genau auf, wo ich hintrete. Selbstverständlich gilt dies auch für Orte, die als geräumt markiert wurden. Die notwendige Trittsicherheit habe ich als passionierter Bergwanderer. Bislang ging immer alles gut.
Gefahr lauert überall
Nur einmal bin ich gestolpert und dann ziemlich böse mit einer schusssicheren Weste nach vorne geplumpst. Mein Krankengymnastiker knetet noch immer an meiner rechten Schulter herum. Doch das geschah nicht im Nahen Osten, sondern im schönen Truppenübungsplatz Hammelburg in Unterfranken, während eines Lehrganges für Journalisten in Krisenregionen im letzten Jahr - eine weitere Anekdote fürs Lagerfeuer.