Fernweh: Ein Streifzug durch Nordnorwegen Winterfeeling zwischen Polarlicht und Polarnacht
In Fernweh am Feiertag sind wir unterwegs in Norwegens Norden, in der Region rund um Tromsø am 70. Breitengrad. Wohl keiner, der da nicht sofort die extravagante Eismeer-Kathedrale vor Augen hat: Dreieckig und ummantelt mit weißem Aluminium symbolisiert sie das Licht mitten in der langen Dunkelheit des Winters. Am Ersfjord bei Tromsö unternehmen wir eine stimmungsvolle Weihnachtswanderung.
Romantik und Realität
Zimtschnecken, Rentiere und der Weihnachtsmann, Wale und Elche, Fjorde und Fjälls, Schnee und Einsamkeit, wilde und gezähmte Wildnis, Stabkirchen, Joik und Sami-Kultur. Unzählige Bilder tauchen beim Stichwort Norwegen vor dem inneren Auge auf: Bilder zwischen Romantik und Realität. Wir blicken auf beides, auf die norwegische Winterwunderwelt ebenso wie auf arktische Problemzonen in Zeiten des Klimawandels und das schwierige Leben der Sami in der Gegenwart.
Alltag und Weihnachten in Tromsø
Unser Kollege Andreas Pehl ist im Juli mit seiner Familie für ein Jahr von Lenggries nach Tromsø gezogen und der Ersfjord einer seiner Lieblingsplätze. Er hat uns verraten, wie es sich jetzt im Winter in der Stadt am Eismeer lebt, die neben verschiedensten Sportmöglichkeiten auch viel Kultur, Museum, Theater und Musik bietet sowie beheizte und somit eisfreie Gehsteige.
Weihnachten wird 300 Kilometer nördlich des Polarkreises zelebriert, alles ist mit viel Geschmack und wenig Kitsch opulent geschmückt und leuchtet. Natürlich hat Andreas Pehl auch die norwegischen Bräuche kennengelernt und dem „Nisse“, dem Weihnachtswichtel, Grütze vor die Tür gestellt, damit er nicht beleidigt ist und das Haus schützt. Die Weihnachtsgans ist hier traditionell entweder Juleribbe, eine Art Schweinsbraten, oder Lutefisk, ein in Lauge aufgeweicht und gegarter Trockenfisch, den man mit ganz viel gebratenem Speck und Kartoffeln essen und mit Akevit, einem Schnaps, nachspülen muss. Ein typisches Winteressen ist Farikål, ein Eintopf aus Lamm, Schaf und Weißkraut mit viel Pfeffer. Auch Rentierbraten kommt in Nordnorwegen zu Weihnachten auf den Tisch.
Kälte und Dunkelheit prägen den Winter in Nordnorwegen. Die Sonne geht von Ende November bis zum 20. Januar nicht auf und bleibt hinter dem Horizont. Für zwei bis drei Stunden am Tag gibt es ein Dämmerlicht mit unglaublich schönen Farben: wie ein zeitgleicher Sonnenaufgang und Sonnenuntergang mit traumhaften Farbspielen hinter den Bergen über dem Eismeer.
Die innere Uhr beim Menschen und Rentier
Mit der Wintersonnenwende am 22. Dezember ist die längste Nacht vorbei. Die polare Dunkelheit aber wirkt sich bei allen Lebewesen auf die innere Uhr aus. Gabriela Wagner aus Innsbruck lebt seit zehn Jahren in Tromsø und arbeitet dort als Chronobiologin am Norwegischen Institut für Bio-Ökonomie-Forschung, kurz Nibio – ein Institut mit rund 700 Forschenden in fünf wissenschaftlichen Bereichen. Ziel ist, das nachhaltige Ressourcen-Management, aber auch Innovation und Wertschöpfung zu verbessern.
Als Chronobiologin forscht Gabriela Wagner über die zeitliche Taktung von physiologischen Prozessen. Alle Lebewesen besitzen sehr ähnliche biologische Rhythmen. In der Polarnacht fehlt allerdings das wichtige Morgen- und Abendsignal, das die Hormone stimuliert. Der Mensch lebt gegen seine „innere Uhr“. Die möglichen Folgen: Schlafstörungen, auch Depressionen, verringerte Konzentrations- und Merkfähigkeit und ein geschwächtes Immunsystem. Allerdings lässt sich das mit Hilfe von Tageslichtlampen ausgleichen.
Die Rentiere sind im Winter weniger aktiv, um Energie zu sparen, schlafen aber mit rund neun Stunden pro Tag genau so viel wie im Sommer. Weil die Winter im Zuge des Klimawandels allerdings wärmer und nasser werden bilden sich im normalerweise locker-leichten arktischen Schnee mehr Eisschichten. Diese können die Rentiere mit ihren Hufen, die übrigens wie „Schneeschuhe“ funktionieren, nicht wegkratzen, weshalb sie dann nicht mehr an die darunterliegende Vegetation kommen, oft verhungern und zugefüttert werden müssen. Das Norwegische Institut für Bio-Ökonomie-Forschung, versucht Strategien zu erarbeiten, wie man die Rentierhaltung der Klima-Änderung anpassen kann.
Die Samen - das einzige europäische Urvolk
Das Recht Rentiere zu halten haben in Nordnorwegen nur die Samen. Sie sind das einzige europäische Urvolk. Die arktische Landschaft im Norden Norwegens ist somit auch keine unberührte Wildnis, sondern eine uralte Kulturlandschaft, ähnlich der Almwirtschaft in den Alpen. Ohne Rentiere gäbe es für die Samen hier kein Leben und Überleben. Nach der letzten Eiszeit sind die Tiere den schwindenden Gletschern gefolgt und die Menschen den Tieren hinterhergezogen. In Alta gibt es 6000 Jahre alte Steinritzungen mit rund 1500 Rentieren. In der Finnmark, dem nördlichsten „Bundesland“ von Norwegen leben über 250.000 Rentiere. Jedes Tier hat einen Besitzer und eine Marke ins Ohr geschnitten, an dem man es erkennen kann.
In der Kultur der Sami nimmt der Joik eine zentrale Bedeutung ein. Jeder Mensch, jedes Tier und jeder Ort hat seinen eigenen Joik, sozusagen eine gesungene musikalische Identität. Der Joik hat nicht nur eine weltliche, sondern auch eine religiöse Bedeutung, früher oft auch in Kombination mit schamanischen Praktiken. Deshalb wurde er von der Kirche verboten und verteufelt und die gesamte samische Kultur als minderwertig diskreditiert. Im 19. Jahrhundert zog man Staatsgrenzen durch das grenzenlose Land der Samen im äußersten Norden. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Zwangs-Norwegisierung und Vertreibung der Samen. Hier wiederholt sich die Geschichte: Europa hat auch im eigenen Kontinent eine unbekannte Geschichte der Kolonialisierung, der Missachtung der Rechte eines Urvolks. Erst im Juni dieses Jahres ist der Bericht der norwegischen Wahrheits- und Versöhnungskommission erschienen, der das Unrecht zusammenfasst.
1990 hat Norwegen zudem als bisher einziges Land mit samischen Siedlungsgebiet die „ILO-Konvention 169“ über verbindliche Rechte der Urbevölkerung ratifiziert, doch die Aufarbeitung des unrühmlichen Umgangs mit dem Urvolk der Sami ist damit leider noch nicht abgeschlossen.
Immer wieder haben sich junge Samen vor dem Parlament in Oslo angekettet und vor allem gegen einen großen Windpark in Fosen in Mittelnorwegen protestiert, der dort auf samischen Rentierweiden errichtet wurde. Die Flächen sind damit für die Rentierwirtschaft unbrauchbar, weil sich die Tiere weigern, an den Windrädern und Stromleitungen vorbeizugehen, um in andere Gebiete zu kommen. Die Samen sprechen von „grüner Kolonialisierung“ und haben ihre territorialen Rechte eingeklagt. Während der noch laufenden Klage wurde der Windpark, an dem auch die Stadtwerke München beteiligt sind, in Betrieb genommen. Das oberste Gericht in Norwegen hat den Samen inzwischen Recht gegeben und einen Völkerrechtsbruch festgestellt. Möglicherweise zeichnet sich jetzt eine Einigung und Wiedergutmachung ab.
Ein „place to be“ für Skitourengeher
Als Skitouren-Ziel ist Norwegen in den letzten Jahren immer beliebter geworden: die Landschaft, die Fjorde, die Schneesicherheit – für Bergmenschen ein „place to be,“. Nach den Lofoten sind vor allem die Lyngen-Alpen in der Nähe von Tromsø mit das beliebteste Ziel für Skitourengeher. Skitouren beginnen oft auf Meereshöhe und führen in Nordnorwegen bis auf 1800 Meter hoch. In den Fjorden kann man oft Wale sehen, weiter oben dann etwas größere Vierbeiner - Elche. Die Norweger selbst gehen auch jetzt im Hochwinter auf Skitour, gerne mal spätabends mit Stirnlampe in der Polarnacht.
Für Nicht- Einheimische ist vor allem das Frühjahr die beste Zeit für Skitouren und die Weihnachtszeit ideal zum Planen. Mittlerweile gibt es kaum eine deutsche Bergschule, die keine Skitourenwoche in Norwegen im Programm hat. Nicht ganz ungefährlich ist Nordnorwegen in punkto Lawinen: 2023 gab es Ende März extrem viel Schnee in der Region um Tromsø, die teilweise sogar evakuiert werden musste, und leider fünf Lawinentote, davon drei Skitourengeher. Ausländische Skitourengeher sind überproportional an Lawinenunfällen beteiligt, resümiert der Norwegische Lawinenwarndienst. Das hängt auch mit dem Aufbau der Schneedecke zusammen, die hier aufgrund des wechselhaften Wetters anders ist als es Skitourengeher in den Alpen gewohnt sind, erklärt Skitourenexperte Sebastian Nachbar: Schwachschichten halten sich viel länger, auch die Altschneeproblematik ist ausgeprägter und tückischer als in den Alpen. Deshalb sollte man sich vorab gründlich informieren und am besten nicht allein losziehen.
Bewirtschaftete Berghütten gibt es kaum, dafür punktet Norwegen mit Schneesicherheit. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob es eine gute Lösung ist, in schneearmen Wintern bei uns zum Skitourengehen nach Norwegen zu fliegen - ein Dilemma in Zeiten der Klimaerwärmung.
Aurora borealis – Nordlicht-Jagd und Magie
Tromsø hat es durch geschicktes Marketing geschafft, die Nordlicht-Destination weltweit zu werden. Aus aller Welt kommen die Besucher, vor allem aus Asien und Südamerika. Inzwischen gibt es rund 70 Firmen, die Nordlichttouren anbieten - von der privaten Tour in der Luxus-E-Limousine bis hin zum großen Reisebus, Nordlichttour im Hundeschlitten, vom Boot aus, mit Rentieren usw. Bis zu 150 Busse sind pro Abend in der Saison unterwegs, mit über tausend erwartungsvollen Gästen auf Nordlichtjagd - ein wichtiges, aber nicht unbedingt nachhaltiges Tourismus-Segment.
Entsprechend ausgebildete Guides gehen auf „Nordlichtjagd“, wobei sie nicht das Nordlicht selbst „jagen“, sondern den klaren Himmel, denn Aurora borealis ist bei Bewölkung nicht zu sehen. Als Ausgangspunkt ist Tromsø ideal, denn das Wetter kann hier auf kurze Entfernung sehr verschieden sein: viele Berge und Fjorde, Wetterscheiden, die finnische Hochebene „nur“ an die 250 Kilometer entfernt.
Zustande kommt das Nordlicht, wenn Moleküle der Sonne, die bei Sonnenstürmen, ins All geschleudert werden, auf Moleküle der Erdatmosphäre treffen und beginnen zu glühen. In der Radarstation EISCAT in Ramfjord wird zum Nordlicht und zum Weltraumwetter geforscht. Die kosmische Energie, die man als Nordlicht sieht, ist eine Gefahr für Satelliten, für die Navigation und die gesamte Elektronik. Flugzeuge fliegen falsch, Kommunikation wird gestört.
Neben der wichtigen wissenschaftlichen Erforschung von Aurora borealis gibt es aber auch unzählige Mythen und Legenden rund um das magische Himmelsschauspiel. Im Nordlicht tanzen die Seelen der Ahnen, es gilt als Wettervorhersage, Vorhersage für Fischfang, als Bedrohung und Kriegszeichen. Man darf nicht pfeifen, wenn man es sieht, sonst schlägt es einem den Kopf ab, und unter dem Nordlicht gezeugte Kinder sollen besonders schön und klug sein.
Falschbilder vom Rentier und Weihnachtsmann
Wer in der oft eiskalten Winterlandschaft Nordnorwegens unterwegs ist und die „Schneisamkeit“, also Schnee und Einsamkeit genießt, der bekommt schnell eine rote Nase. Die soll angeblich auch das Rentier haben: „Rudolph, the rednoosed reindeer“. Aber das stimmt nicht so ganz, denn Rentiere haben außen auf der Nase Fell. Nur innen ist ihre Nase extrem rot und hat viele kleinen Höhlen. Dadurch wird die Luft beim Einatmen aufgewärmt und beim Ausatmen abgekühlt, so dass die Rentiere weniger Dampf in die Luft abgeben und somit kaum Feuchtigkeit verlieren. Die Rentiernase ist somit ein kleines Wunderwerk der Natur.
Auch rund um den Weihnachtsmann, der ja aus Nordnorwegen stammen soll, gibt es so einige Unstimmigkeiten. Der Legende nach wird sein Schlitten von männlichen Rentieren gezogen. Auf fast allen Bildern tragen die Vierbeiner ein Geweih. Doch im Winter haben nur die weiblichen Rentiere ein Geweih und korrekterweise müsste man also von „Frau Rudolph“ sprechen.