Zu wenig Therapieplätze Was können Psychotherapie-Apps leisten?
Die meisten Menschen müssen lange auf einen Psychotherapieplatz warten. Abhilfe schaffen sollen digitale Apps. Was bringen Online-Angebote, sind sie eine Lösung?
Die Sonne scheint, Schnee liegt über den Feldern. Christian Beck geht mit seinem Hund spazieren, atmet die frische Luft ein, ist zufrieden. Für andere eine Selbstverständlichkeit. Für ihn erst seit kurzem wieder möglich. Denn vor zwei Jahren rutschte er in eine Depression.
"Ich war einfach wie eine Hülle. Ich habe wirklich nichts gespürt. Man kann sich das gar nicht vorstellen, nichts zu spüren. Man steht auf, und man lebt halt. Das war's. Aber man weiß nicht, was macht man überhaupt heute? Warum lebe ich? Was soll ich jetzt machen. Ich kann ja genauso gut weiterschlafen. Und dann schläft man."
Christian Beck
In dieser schweren Zeit, versucht er, einen Therapieplatz zu finden. Eine Suche, für die er eigentlich keine Kraft hat. Immer wenn er sich aufrafft, bekommt er eine Absage oder ihm wird gesagt, dass er ein bis zwei Jahre warten muss. Er ist verzweifelt.
Bayern: Im Durchschnitt 20 Wochen Wartezeit auf einen Therapieplatz
Wie Christian Beck geht es vielen Betroffenen. Eine Befragung der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns zeigt: Im Durchschnitt warten Patientinnen und Patienten in Bayerns Städten von der ersten Sprechstunde bis zum Beginn der ambulanten Psychotherapie 20 Wochen - also etwa fünf Monate. Auf dem Land sind die Wartezeiten noch länger.
Zu wenig Kassenplätze für Psychotherapeuten
Das Problem: Es gibt nicht zu wenig Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sondern es haben zu wenige eine Kassenzulassung. Ohne diese kann man nur Privatpatienten oder Selbstzahler behandeln. Das ist für viele zu teuer.
Wie viele dieser Kassensitze nötig sind, legt der Gemeinsame Bundesausschuss fest. Ein Gremium, in dem neben Kliniken und Patientenvertretern auch die Kassen sitzen.
Dr. Nikolaus Melcop, Präsident der Psychotherapeutenkammer Bayern, fordert, dass die Kassen-Plätze aufgestockt werden. Denn er weiß, welche Auswirkungen lange Wartezeiten für die Patientinnen und Patienten haben können.
Therapie-Apps sollen helfen
Und so strömen immer mehr Therapie-Apps auf den Markt. Sie sollen die Betroffenen in der langen Wartezeit bis zum Therapiestart unterstützen. Die App-Anbieter werben mit Slogans wie: „Es kann sofort mit der Behandlung begonnen werden!“
Bei diesen Psychotherapie-Apps handelt es sich um sogenannte DiGAs - Digitale Gesundheitsanwendungen. Sie werden auf Rezept verschrieben und von den Krankenkassen bezahlt. Zugelassen und geprüft sind diese vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte anhand von unabhängigen Studien.
Therapie-Apps: Studien zeigen eine Wirksamkeit
Eine dieser unabhängigen Studien hat Prof. Dr. Julian Rubel an der Universität Gießen durchgeführt. 156 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einer generalisierten Angststörung wurden zunächst einem diagnostischen Interview unterzogen. Eine Hälfte hat danach die Therapie-App zwölf Wochen genutzt, die andere erst danach.
Die Ergebnisse zeigen, dass bei den Teilnehmenden, die die App sofort nutzen durften, 44 Prozent von einer Verbessrung der Symptomatik sprechen. Bei der Kontrollgruppe, die die App nicht sofort genutzt hat, berichten nur knapp 14 Prozent von einer Verbesserung.
"Dieses Ergebnis fügt sich sehr schön in die bisherige Studienlage ein. In vielen anderen Studien und Messanalysen konnte gezeigt werden, dass solche DiGAs durchaus zu einer substanziellen Verbesserung der Symptomatik bei den PatientInnen führen. Mein Fazit wäre, dass die Nutzung von Apps definitiv für viele besser ist, als nichts zu tun, als zu warten."
Prof. Dr. Julian Rubel, Klinische Psychologie und Psychotherapie des Erwachsenenalters, Universität Osnabrück
Kritik: Intervention durch Psychotherapeuten möglich
Dr. Nikolaus Melcop, Präsident der bayerischen Psychotherapiekammer sieht diese Entwicklung sehr kritisch und sogar als eine Gefahr.
"Stellen Sie sich einen Menschen mit einer richtigen Depression vor, der zweifelt, der nicht weiterweiß. Dann macht er eine DiGA, hat Hoffnung, und die wirkt aber bei ihm nicht. Was passiert? Dem geht es schlechter."
Dr. phil. Dipl. Psych. Nikolaus Melcop, Präsident der Psychotherapeutenkammer Bayern, München
Dr. Melcop spricht sich nicht grundsätzlich gegen die DiGAs aus. Sie kann helfen. Jedoch nur, wenn sie in eine Therapie eingebunden ist und ausgebildete Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten diese begleiten und intervenieren können.
"Es muss jemand sein, der die Verantwortung übernehmen kann. Angefangen von der Diagnostik über Indikation, über Aufklärung, bis hin zur Therapieverlaufs-Kontrolle. Und der dann auch sagt, jetzt ist es gut, jetzt folgt der Ablösungsprozess. Und: Sie können wieder alleine weiterkommen im Leben."
Dr. phil. Dipl. Psych. Nikolaus Melcop, Präsident der Psychotherapeutenkammer Bayern, München
App kann keine nonverbalen Informationen liefern
Christian Beck hatte in der Hochphase seiner Depression weder Kraft noch Motivation für eine App. Nach sechs Monaten findet er endlich seinen heutigen Therapeuten: Dr. Waldherr. Seinen Patienten physisch zu sehen, ist für den Psychotherapeuten essenziell.
Auch Christian Beck hat die persönlichen Treffen gebraucht. Er ist immer in die Praxis gekommen. Heute geht es im besser – dank der Therapie.
Mehr freie Therapieplätze sind in naher Zukunft nicht absehbar. Und so werden digitale Lösungen wohl weiter zunehmen. Eine Therapeutin oder einen Therapeuten in Persona können sie jedoch nicht ersetzen.
Was mache ich im Notfall?
Expertinnen und Experten weisen darauf hin, sich im Akutfall immer an ein Notfallzentrum oder ein Krisentelefon zu wenden. Eine Anlaufstelle ist das überregionale Krisentelefon, erreichbar unter folgenden Nummern:
Tel.: 0800 / 11 10 111
Tel.: 0800 / 11 10 222
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