Gesunde Ernährung Ernährungsirrtümer und falsche Mythen
Im Glaubenskrieg rund um die angeblich gesunde Ernährung basiert vieles auf Mythen und Ideologie. Wahrscheinlich müssen wir einige Vorstellungen über das sogenannte gesunde Essen über Bord werfen.
Eigentlich müssten in Deutschland alle wissen, wie man sich richtig ernährt, gesund und schlank bleibt - theoretisch. Praktisch ist inzwischen über die Hälfte der Deutschen zu dick. Die Erklärungsversuche für das - weltweite - Phänomen sind so zahlreich wie die Diät-Modelle.
Natürlich spielen die Gene eine Rolle, natürlich die moderne Lebensweise mit zu wenig Bewegung, zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit ohne Ruhepausen, zu vielen Süßigkeiten, Cola und Alkohol. Inzwischen weiß man auch, dass Menschen in schwierigen Lebensumständen, mit geringerer Bildung oder geringem Einkommen eher übergewichtig sind als Menschen mit hohem Einkommen und hoher Bildung. Dass das nicht einfach aufzulösen ist, liegt auf der Hand. Dramatisch unterschätzt wurde bisher auch der Faktor Psyche: Depressive sind häufig übergewichtig und umgekehrt leiden viele Übergewichtige an depressiven Verstimmungen oder Ängsten.
Essen aus Frust, Gewohnheit und Tradition
Viele sind daran gewöhnt, sich mit Essen zu belohnen, zu trösten oder zu beruhigen. Das alles ist nicht zwangsläufig, sondern gelernt oder regelrecht konditioniert. Die Mechanismen sind weit verbreitet und schwer wieder auszutreiben. Auch kalorienträchtige Traditionen und Rituale - etwa das Feierabendbier und das Kaffeekränzchen - sind gewichtige Gründe für die Kilos auf den Hüften.
Es gibt keine einfache Wahrheit
Trotz dieser vielen Faktoren gibt es erbitterte Diskussionen um die einzig richtige Ernährungsweise. Allerdings ist gesundes Essen und richtige Ernährung wahrscheinlich nicht viel mehr als Glaubenssache - denn die Faktenlage ist dünn:
"Große Studien in Amerika haben gezeigt, dass es eigentlich vollkommen egal ist, ob man viele Vitamine oder weniger, oder wenig Fett oder viel Fett, oder mehr oder weniger Ballaststoffe zu sich nimmt. Das wahre Risiko ist das Übergewicht."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Prof. Dr. Volker Schusdziarra von der TU München leitet am Else Kröner-Fresenius-Zentrum für Ernährung eine Sprechstunde speziell für Übergewichtige:
"Die Zusammensetzung des Essens hatte in den Studien keine Auswirkungen auf das Krankwerden, selbst keine Auswirkungen auf die Todesrate. Im Grunde genommen kann derjenige, der ein normales Körpergewicht hat, essen, was er möchte. Der Normalgewichtige muss auf gar nichts Rücksicht nehmen beim Essen. Natürlich kann jeder behaupten, dass es für ihn individuell gut ist, wenn er jetzt ein paar Vitamine mehr oder ein bisschen mehr Obst oder Ballaststoffe isst. Aber das fällt in die Rubrik Religionsfreiheit. Das sind Glaubensbekenntnisse, die jeder haben darf. Aber sie sind nicht medizinisch und naturwissenschaftlich untermauert."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Damit wäre die Suche nach der einzig wahren, richtigen Ernährungsweise erledigt. Glück haben jetzt die, die ein normales Gewicht haben und alles essen können, was sie wollen. Gleich mehrere Probleme auf einmal haben aber die anderen, die Übergewichtigen: Was sollen sie essen, wie nehmen sie ab und wie halten sie ihr Gewicht auf Dauer?
Pauschale Regeln führen in die Irre
In diesem Zusammenhang hält Volker Schusdziarra bisherige Vorstellungen größtenteils für verfehlt: "Übergewichtige essen nicht ungesund. Sie essen einfach zu viel, zu kalorienreich", so der Experte. Die Einteilung in gesunde und ungesunde Lebensmittel hält er für unsinnig. Seiner Meinung nach führen auch generelle Empfehlungen wie die, reichlich Getreideprodukte und viel Obst zu essen, in die Irre.
"Gerade Nudeln, Brot und Getreideprodukte sind in punkto Gewicht problematisch ... Die hochkonzentrierten Kohlenhydrate in Getreideprodukten sind die wichtigsten Dickmacher."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Insulin - Das Masthormon
Schusdziarra selbst empfiehlt Menschen, die abnehmen wollen, mit Kalorien in Form von Kohlenhydraten möglichst sparsam umzugehen - also mit Brot, Knödeln, Nudeln, Kuchen und Süßigkeiten. Denn die bewirken, dass die Bauchspeicheldrüse Insulin ausschüttet. Und dieser Stoff ist der körpereigene Dickmacher: Insulin ist ein Masthormon, das die Zellen für Zucker aus dem Blut öffnet und die Fettzellen anregt, Depotfett einzulagern. Wer seinen Insulinspiegel durch Brot, Kuchen, Nudeln und dann noch das Naschen zwischendurch ständig hoch hält, hat keine Chance, abzunehmen.
Gefährlich sind auch die süßen Getränke wie Cola, Limo, Säfte und die im Sommer beliebten Saftschorlen.
"Flüssige Kalorien in großer Menge und dazu ständiges Stimulieren von Insulin, da hat man keine Chance, Gewicht zu verlieren."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Brot und Obst - Nicht automatisch gesund
Schusdziarra hat die Ernährungsgewohnheiten seiner Patienten per Ess-Protokoll untersucht. Jedes Jahr betreut er Tausende von Patienten, darunter auch schwer Fettleibige, die seit Jahren mit den Kilos kämpfen. Ergebnis: Brot gehört zu den größten Dickmachern.
"Das liegt daran, dass den Menschen eingeredet wird, Brot, besonders Vollkornbrot, sei gesund. Dann denken sie, sie machen es richtig, wenn sie ganz viel davon essen."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Ähnlich verhält es sich mit Obst, ebenfalls eine Kalorienquelle:
"Auch hier glauben viele, dass sie unbegrenzt Obst essen können, weil es ja so gesund ist und so viele Vitamine hat. Aber da sammeln sich die Kalorien, weil Obst dann häufig und auch in großen Mengen gegessen wird. Wenn Sie jeden Tag nur 250 Kalorien als Überschuss haben, vom Obst, das zusätzlich und zwischendurch gegessen wird, dann sind das am Ende des Jahre 14 Kilo Fettgewebe auf den Hüften."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Nicht totzukriegen: Mythen über Fett und Cholesterin
Auch Ulrike Gonder, Ernährungswissenschaftlerin und Buchautorin, glaubt, dass es längst Zeit ist, von den herrschenden Ideologien abzurücken. Seit Jahren kritisiert sie den Umgang der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) mit den Ernährungsempfehlungen:
"Sie kriegen bestimmte Sachen aus dem Köpfen nicht raus - die Verbraucher haben gelernt: Fett ist schlecht, Butter ist schlecht, Cholesterin ist schlecht. Dass das alles wissenschaftlich aber gar nicht haltbar und auch offiziell widerlegt ist, wird einfach nicht kommuniziert. Zum Beispiel hat die DGE für die Leitlinie Fett alle wissenschaftlichen Daten schon zusammengetragen und räumt ein, dass Fett eben nicht zwangsläufig dick und krank macht und zum Herzinfarkt führt. Aber das wird einfach nicht kommuniziert. Da muss auch in der Ernährungswissenschaft was passieren, man muss den Leuten reinen Wein einschenken."
Ulrike Gonder
Längst ist zum Beispiel klar, dass mit der Nahrung aufgenommenes Cholesterin mit dem Cholesterinspiegel im Blut so gut wie nichts zu tun hat. Selbst derjenige, der einen genetisch bedingt hohen Cholesterinspiegel hat, kann weiterhin seine Eier zum Frühstück essen, sagt Volker Schusdziarra: Am krankhaft erhöhten Cholesterinspiegel können nur Medikamente etwas ändern.
Zwischenmahlzeiten weglassen
Für die üblichen pauschalen Ernährungsregeln hat auch Ulrike Gonder nichts übrig. Etwa die mit den Zwischenmahlzeiten, die immer wieder empfohlen werden - besser fünf bis sechs kleine als drei große Mahlzeiten am Tag.
"Das ist eine heilige Kuh, die man längst schlachten sollte. Manche Menschen brauchen was zwischendurch, das sind meiner Erfahrung nach aber eher die Hageren. Menschen mit Übergewicht fahren mit drei regelmäßigen Mahlzeiten viel besser."
Ulrike Gonder
Natürlich sollte man sich nicht aushungern und etwa ständig die Hauptmahlzeiten ausfallen lassen. Dann kann es zu den gefürchteten Heißhungerattacken kommen. Stattdessen empfiehlt auch Volker Schusdziarra, lieber mit weniger Mahlzeiten am Tag auszukommen.
Damit der Körper überflüssige Fettreserven abbauen kann, braucht er eine längere Nahrungspause, und zwar in der Nacht:
"Wenn man abnehmen will, ist es wichtig, abends nicht zu spät und vor allem keine Zwischenmahlzeit mehr zu essen. Denn beim Menschen findet die körpereigene Fettverbrennung überwiegend nachts statt. Vor allem bei Zwischenmahlzeiten ist tagsüber die Chance gleich null, dass der Körper Fett verbrennt, weil man ja in kurzen Abständen Brennstoff zuführt. Und gerade spät abends etwas zu essen, auch wenn es nur Obst ist, führt dazu, dass die Fettverbrennung erst um zwei Uhr losgeht, wogegen sie sonst schon um 22.00 Uhr losgehen könnte. Und so fällt die Fettverbrennung, die sonst in den Stoffwechsel eingebaut wird, geringer aus."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
Es ist und bleibt Geschmackssache
Die Experten der Sendung
Prof. Dr. med. Volker Schusdziarra
Facharzt für Innere Medizin,
Gastroenterologie Klinikum Rechts der Isar
Ulrike Gonder
Wissenschaftsjournalistin und Diplom-Ökotrophologin
Trotzdem verbietet Schusdziarra in seinem eigenen Ernährungskonzept den Patienten nicht, ihre kleinen Vorlieben zu behalten: Wer nicht arbeiten kann, ohne am Nachmittag ein Stück Kuchen zu essen, darf das auch im Abnehm-Programm der TU München. Nur muss man dann die Kalorien an anderer Stelle wieder einsparen und insgesamt darauf achten, dass man die Insulin-Ausschüttung nicht zu stark stimuliert.
Schusdziarra stimmt mit jedem Patienten einen maßgeschneiderten Essplan ab:
"Essen ist im höchsten Maße konditioniertes Verhalten, und sehr individuell. Wenn jemand unbedingt seine Schokolade braucht, können Sie den nicht dazu bringen, stattdessen an einer Karotte zu knabbern oder joggen zu gehen. Wir suchen in unserer Praxis nach Alternativen aus derselben Lebensmittel- und Geschmacksgruppe. Also nicht die halbe Tafel Schokolade, sondern einen Becher Schokopudding aus dem Kühlregal. Dann ist der bekannte Geschmack da, und das gewünschte Gefühl, was schön Fettiges im Mund zu haben - aber es sind viel weniger Kalorien. Ähnlich ist es auch bei Bratkartoffeln, von denen alle immer sagen, das ist ja das pure Fett und die sind ganz ungesund. Die sind viel günstiger als zum Beispiel eine Vollkornsemmel. 100 Gramm Bratkartoffeln haben 100 Kilokalorien weniger als 100 Gramm Vollkornsemmel! Das wissen die meisten gar nicht. Und dazu stimulieren sie das Insulin viel weniger."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra
"Auch beim Schweinebraten, der völlig in Verruf geraten ist, der zu Unrecht verteufelt wird als zu fett und ungesund, der ist eigentlich ein wunderbares Gericht auch für Übergewichtige. Lieber ein Stück Braten mehr und dafür einen Knödel weglassen, das ist günstiger. Denn so spart man Kalorien und hält das Insulin im Zaum. Außerdem hat man den Bauch voll und fühlt sich angenehm satt - und das ist das Wichtigste beim Essen."
Prof. Dr. Volker Schusdziarra