RESPEKT Streik - Grundrecht mit Grenzen?
Volle Mülleimer, die Kita zu, der Bus fährt nicht. Schon wieder. Schon wieder Streiks. Was die einen nervt, ist für andere oft das einzige Mittel, um berechtigte Forderungen – wie nach höheren Löhnen – gegenüber den Arbeitgebern durchzusetzen. Wie Anfang 2023, als Hunderttausende Beschäftigte des Öffentlichen Diensts ihre Arbeit niederlegten und auf die Straße gingen. Aber dürfen die das so einfach?
Definition
Was ist Streik?
- Eine größere Zahl von Arbeitnehmer:innen legt ihre Arbeit nieder, um bessere Arbeitsbedingungen oder mehr Lohn zu bekommen.
- Streik ist in Deutschland im Gegensatz zum Beispiel zu Frankreich kein Grundrecht. Das Grundgesetz (Artikel 9, Absatz 3) schützt aber Arbeitskämpfe, die "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" geführt werden. Deshalb darf bei einem rechtmäßigen Streik keinem Streikenden gekündigt werden.
- Der Streik muss von einer Gewerkschaft organisiert werden. Ist das nicht der Fall, spricht man von einem "wilden Streik", und der ist verboten.
- Ein Streik muss sich gegen einen Tarifpartner richten, also zum Beispiel gegen den Arbeitgeber. Und er muss tarifrechtlich zu regeln sein. Wird der Arbeitgeber bestreikt, um ein politisches Ziel zu erreichen, spricht man von einem "politischen Streik". Der ist nicht zulässig und sogar ein Kündigungsgrund.
- Nicht gestreikt werden darf auch während der Laufzeit eines Tarifvertrags. Hier gilt die sogenannte Friedenspflicht. Erst wenn der Tarifvertrag gekündigt ist, darf gestreikt werden. Er verursacht mit Absicht Störungen, um Druck auf den Staat auszuüben und die Aufmerksamkeit in den Medien herzustellen.
- Ein Streik muss verhältnismäßig und fair verlaufen und grundsätzlich ohne Gewalt.
- Darf jede:r Arbeitnehmer:in streiken? Nein, Beamt:innen haben gegenüber ihrem Arbeitgeber eine Treuepflicht und dürfen nicht an Streiks teilnehmen.
- Streikgeld, also einen Ausgleich zum Lohnausfall, erhält nur, wer Mitglied in einer Gewerkschaft ist.
- Ein Streik sollte immer die letzte Möglichkeit sein, das angestrebte Ziel zu erreichen. Vorher sollten alle Verhandlungsmöglichkeiten genutzt werden.
"Zum Leben reicht's" – knapp
Jessica Gritsch liebt ihren Job, nur davon leben kann sie in einer der teuersten Städte Deutschlands eher schlecht. Die Müllwerkerin aus München erhält monatlich nach Abzug aller Steuern etwa 1.500 Euro, davon muss sie mehr als die Hälfte für die Miete ausgeben. Für alles andere bleiben ihr dann nur wenige Hundert Euro. Jessica Gritsch hat Anfang 2023 mitgestreikt, als ihre Gewerkschaft Tariferhöhungen für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes erfolgreich durchsetzte. Es ging ihr aber nicht allein um mehr Lohn.
"Das Gefühl allein schon beim Streik. (...) Diesen Teamgeist, dass man zusammenhält in schweren Phasen, den hat man wirklich gespürt an dem Tag. Es war nicht einfach so: Die Leute kommen, sagen, jetzt streiken wir und gehen wieder. Sondern nein, wir standen wirklich da. Wir haben uns die Kundgebung angehört. (...) Es hat sich wirklich gut angefühlt und jetzt, dass auch noch was dabei rausgekommen ist, war noch mal wie so ein kleiner Sieg eigentlich, so nach dem Motto: Ja, wir haben was geschafft. Geil."
Jessica Gritsch, Müllwerkerin aus München
Tropfen auf den heißen Stein?
Jessica Gritsch ist eine von 2,5 Millionen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, die jetzt, dank einer der größten Tariferhöhungen seit Jahren, mehr Geld erhalten. Für den und die Einzelne:n ist die tatsächliche Summe eher klein, für die Arbeitgeber bedeutet die Tariferhöhung aber insgesamt 22 Milliarden Euro Mehrkosten.
Saskia Lehmann-Horn, die Hauptgeschäftsführerin Kommunaler Arbeitgeberverband e.V., ist zunächst einmal froh, dass die außergewöhnlich schwierigen Tarifverhandlungen ohne weitere Streiks abgeschlossen werden konnten. Der Öffentliche Dienst will gerade in Zeiten von Fachkräftemangel als Arbeitgeber ja außerdem attraktiv bleiben.
"Aber tatsächlich sind die höheren Löhne ein Problem vor allem für die finanzschwächeren Kommunen und ein großes Problem, weil deren Einnahmen werden nicht steigen, insbesondere die Steuereinnahmen. Und man muss auch damit rechnen, dass Gebühren und Abgaben erhöht werden. Es wird sich dann zeigen, wie das in 2024 sich für jede Kommune auswirkt. Aber wir haben auch Planungssicherheit. Der Tarifabschluss gilt für zwei Jahre, und das war uns sehr, sehr wichtig. Dass wir erst 2025 dann erneut in Verhandlungen einsteigen."
Saskia Lehmann-Horn, Kommunaler Arbeitgeberverband e.V.
Streiks sind den Arbeitgebern schon immer ein Dorn im Auge. Aber sie gehören eben dazu, wenn über Gehälter und Löhne diskutiert wird. Und Streiks gehören auch zu den Spielregeln einer Demokratie. Kein Wunder also, dass die ersten Streiks der neueren Geschichte in der ältesten noch heute bestehenden Demokratie der Welt stattgefunden haben – in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Zahlen und Fakten
Erfolg durch Streik
- Der 1. Mai – ein Feiertag. Seinen Ursprung hat er in den USA: Am 1. Mai 1886 gehen dort in mehreren Städten Menschen auf die Straße. Ihre Forderung: Der Acht-Stunden-Arbeitstag. In Chicago kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Dabei sterben mehrere Demonstrierende und auch Polizisten. Es sind blutige Streiks mit internationaler Wirkung.
- Schon ab 1890 ist der 1. Mai auch in Deutschland "Tag der Arbeiterbewegung", heute besser bekannt als "Tag der Arbeit".
- 1919 wird er hier erstmalig gesetzlicher Feiertag, dann dauerhaft ab 1933. Die Nationalsozialisten nutzen ihn als Propagandatag. Die Gewerkschaften werden gleichgeschaltet.
- Auch nach dem 2. Weltkrieg bleibt der 1. Mai ein Feiertag.
- Deutschland, Ende der 1970er-Jahre: Metallarbeiter fordern eine 35-Stunden-Woche. Daraus wird zwar zunächst mal nichts, aber 1984 folgt ein neuer Anlauf – mit massiven Streiks:
- Beschäftigte in der Metallindustrie streiken sieben Wochen! Beschäftigte in der Druckindustrie sogar mehr als zwölf Wochen. – Es ist die größte soziale Machtprobe der Nachkriegszeit. Die Arbeitgeber reagieren drastisch – mit Aussperrungen. Draußen bleiben, ohne Lohn – als Druckmittel. Bei einer Schlichtung erreichen die Streikenden eine Verkürzung der Arbeitszeit: Die Ära der 38,5-Stunden-Woche bricht an. Ein Meilenstein.
- 1995 dann erreichen die Arbeitenden der Metall- und auch der Druckindustrie in Westdeutschland die 35-Stunden-Woche.
- Der älteste dokumentierte Streik: ca. 1160 vor Christus im Alten Ägypten beim Bau der Königsgräber. Bezahlt wurden die Arbeiter damals mit Nahrungsmitteln. Doch immer wieder blieb dieser Lohn aus. Deshalb legten die Handwerker wiederholt ihre Arbeit nieder und gingen in einen Sitzstreik. Sie waren erfolgreich. Eine Papyrusschrift aus dieser Zeit gilt als Zeugnis dieses Streiks.
Quellen: "Zahlen und Fakten: Erfolg durch Streik" Format: PDF Größe: 317,53 KB
Es selbst in die Hand nehmen
Streiks hatten also auch in der Vergangenheit immer wieder Erfolg. Und heute kämpft unter anderem Ver.di für die Rechte von Arbeitnehmer:innen. Die Dienstleistungsgewerkschaft ist für den Öffentlichen Dienst in Bund, Gemeinden und bei den Kommunen zuständig. Und falls nötig, ruft sie auch zum Streik auf. Organisiert wird so eine Veranstaltung beispielsweise von Katharina Heymann, Jugendsekretärin der Gewerkschaft Ver.di. Ihr geht es bei ihrer Arbeit nicht in erster Linie darum, beispielsweise mehr Geld zu fordern, sondern sie sieht im Streiken einen Akt der Selbstermächtigung:
"Gerade Auszubildende kommen oft in einen Betrieb und erleben erst mal, dass sie einfach am kürzeren Hebel sitzen und dass andere Menschen entscheiden, ob sie jetzt Überstunden machen müssen oder nicht. Oder ob sie ausbildungsfremde Tätigkeiten machen und putzen, statt was zu lernen. Und durch diese kollektive Erfahrung des Streiks lernt man dann irgendwann, dass man doch die Macht hat, auch selber über seine Arbeitsbedingungen zu bestimmen und sich nicht einfach willenlos hingeben muss den Bedingungen, die man vorgefunden hat, als man eine Ausbildung begonnen hat, oder ein duales Studium, oder was auch immer."
Katharina Heymann, Ver.di
Ob es um mehr Geld oder bessere Arbeitsbedingungen geht, oder auch darum, Solidarität mit anderen zu zeigen – von alleine verändert sich selten etwas zum Besseren. Das beste Mittel ist dann, zunächst ins Gespräch zu gehen, auch Vermittler einzubeziehen. Und wenn alles nichts bringt, gibt es immer noch die Möglichkeit, in Streik zu gehen. Was immer der auch letztlich bewirkt: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Begriffe aus dem Video und Artikel
- Streik = Eine verhältnismäßig große Zahl von Arbeitnehmer:innen legt vorübergehend ihre Arbeit nieder, um ein gemeinsames Ziel im Rahmen ihrer Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zu erreichen. Damit die Aktion rechtmäßig ist, muss sie von einer Gewerkschaft organisiert sein.
- Wilder Streik = Ist ein Streik nicht von einer Gewerkschaft organisiert, ist er verboten und wird als "wilder Streik" bezeichnet.
- Politischer Streik = Es ist verboten, die Arbeit niederzulegen, um sich gegen den Staat zu richten, denn damit wird der Arbeitgeber wirtschaftlich geschädigt.
- Warnstreik = Streik während der Tarifverhandlungen, um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen und die Bereitschaft zu weiteren Streiks zu zeigen.
- Demonstration = Eine in der Öffentlichkeit stattfindende Versammlung mehrerer Personen zum Zweck der Meinungsäußerung. In Deutschland ist das Demonstrationsrecht ein Grundrecht (Grundgesetz, Artikel 8).
- Schulstreik = Schüler:innen sind keine Arbeitnehmer:innen und verweigern beim "Schulstreik" keine Arbeitsleistung, sondern demonstrieren in der Regel, um politische Ziele durchzusetzen.
- Fridays for Future = globale soziale Bewegung, ausgehend von Schüler:innen und Studierenden, die sich für möglichst umfassende, schnelle und effiziente Klimaschutzmaßnahmen einsetzen und dafür auch in "Klimastreik" gehen. Streik ist hier eigentlich das falsche Wort, Demonstration oder Protest wäre passender.
- Ziviler Ungehorsam = Ausdruck von Widerstand gegen bestimmte politische Maßnahmen, zum Beispiel in Form von Sitzblockaden. Manchmal gerät der Protest dabei in Grauzonen der Legalität, zum Beispiel, wenn die "Letzte Generation" sich auf der Straße festklebt und damit die Freiheit anderer, in diesem Fall der Verkehrsteilnehmer:innen, einschränkt.
Autor:in: Redaktion Lernen und Wissenslab / jzw