Friedrich Ani Totsein verjährt nicht
Der Fall der spurlos verschwundenen Peggy in Lichtenberg hat über Jahre die Öffentlichkeit beschäftigt. Später wird der geistig zurückgebliebener Ulvi K. wegen Mordes verurteilt. Der Autor Friedrich Ani des Stoffs angenommen.
Am 7. Mai 2001 verschwand in Lichtenberg im Landkreis Hof die neunjährige Peggy spurlos. Weder das Mädchen noch ihre Leiche wurden je gefunden. Drei Jahre später verurteilte das Landgericht Hof den damals 27-jährigen geistig zurückgebliebenen Ulvi K. wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Ein zweifelhafter Prozess ohne Leiche, ohne DNA-Spuren, nur mit einem Geständnis des Tatverdächtigen, das dieser zwei Tage später wieder zurückgenommen hatte. Der Fall wühlt die Gemeinde Lichtenberg noch heute auf. Und jetzt hat er auch Eingang in die Literatur gefunden: Der bekannte Münchner Krimiautor Friedrich Ani hat aus dem Fall Peggy einen Fall für seinen Münchner Ermittler Polonius Fischer gemacht.
Der Fall spielt in München, nicht in Lichtenberg und das verschwundene Mädchen heißt Scarlett, nicht Peggy. Ansonsten hat sich Friedrich Ani an das gehalten, was ihm die Realität vorgegeben hat: Ein geistig zurückgebliebener junger Mann ist für einen Mord verurteilt worden, von dem keiner mit Sicherheit sagen kann, ob er tatsächlich stattgefunden hat. Sechs Jahre nach Scarletts Verschwinden, bekommt der Münchner Kommissar Polonius Fischer einen Brief von einem ehemaliger Mitschüler des Mädchens, der sie auf dem Marienplatz gesehen haben will - lebend.
"Ich habe alle Zeitungsartikel über Scarlett ausgeschnitten und in einer Schachtel gesammelt. Das weiß niemand. Das Vertrauen in die Mordkommission hab ich eigentlich verloren, in Sie aber noch nicht, Herr Fischer. Sie glauben mir, das weiß ich, und Sie werden jetzt, wenn Sie lesen, was ich erlebt habe, handeln und sich von Ihren Kollegen und Vorgesetzten nicht einschüchtern lassen. Das hoffe ich jedenfalls. Ich habe Scarlett Peters erkannt."
Buchzitat
Polonius Fischer nimmt die Ermittlungen wieder auf - heimlich, und anfangs auch nur, um sich abzulenken: Seine Lebensgefährtin, eine Taxifahrerin, ist bei einem brutalen Überfall zusammengeschlagen worden und liegt im Koma. Der Kommissar trifft auf immer mehr Ungereimtheiten und Widersprüche im Fall Scarlett, zweifelt an der Arbeit und Integrität seiner Kollegen. Der Autor Friedrich Ani hat lange recherchiert im Fall Peggy Knobloch: Durch Kontakte hatte er Zugang zu Polizeiakten, die die Öffentlichkeit nicht kennt.
"Im Fall Peggy war's so, dass bestimmte Aussagen oder Ermittlungsergebnisse einfach nicht stimmen konnten. Und im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass offensichtlich Fehler gemacht wurden oder - wie es mir scheint - absichtlich, aus welchen Gründen auch immer, falsche Dinge als Fakten angenommen wurden. Dieser Fall Peggy Knobloch ist in meinen Augen einer der größten Polizeiskandale in der bundesrepublikanischen Kriminalgeschichte."
Friedrich Ani
"Totsein verjährt nicht" ist kein klassischer Krimi, in dem es darum geht, nach einer Tat stringent einen Täter zu überführen. Friedrich Ani zeigt stattdessen menschliche und gesellschaftliche Abgründe. Polonius Fischer, der ehemalige Mönch, wandert verschlossen, fast autistisch und unglaublich zornig durch das Buch - immer kurz vor der Explosion. Die Verhörmethoden seiner Kollegen schockieren ihn.
"Eine elfstündige Vernehmung ohne Pausen durchzuführen ist nicht ungesetzlich, dachte Fischer. Es ist unmenschlich. Einen geistig behinderten Vierundzwanzigjährigen elf Stunden lang ohne Pausen zu vernehmen ist nicht unmenschlich, dachte Fischer. Es ist eine Schande für die Polizei. Einen behinderten Mann mit dem Geisteszustand eines Zehnjährigen elf Stunden lang ohne Pausen und ohne Rechtsbeistand zu vernehmen, dachte Fischer, grenzt an Folter."
Buchzitat
Auch im realen Fall Peggy Knobloch hat der verurteilte Mörder Ulvi K. der Polizei tätliche Angriffe vorgeworfen. Die Ermittlungen verliefen im Sande. Den Schriftsteller Friedrich Ani lässt der Fall nicht mehr los.
"Da wird der Verdächtige einfach Mürbe gemacht und das Mürbemachen ist ein Teil der Taktik. Und insofern muss man auch darüber schreiben, weil es ständig passiert. Es ist ein Buch, das davon erzählt, wie wichtig es ist, sich nicht immer auf das Scheinbare zu verlassen, auch wenn es von der Polizei kommt und als wahr, als einzig wahr hingestellt wird."
Friedrich Ani
Info und Bewertung:
Friedrich Ani: Totsein verjährt nicht. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2009. ISBN: 978-3-552-05470-7. Preis: 19,90 Euro.
Die fiktive Lösung des Falles in "Totsein verjährt nicht" ist verstörend.
Noch verstörender ist allerdings, dass im realen Fall Peggy all diese Fragen, die im Roman letztendlich beantwortet werden, weiter offen bleiben.
Friedrich Ani will sich zusammen mit einer Bürgerinitiative in Lichtenberg für eine Wiederaufnahme des Falles einsetzen.