Thomas Medicus Heimat. Eine Suche
Der in Gunzenhausen geborene und aufgewachsene Thomas Medicus, der seit langem in Berlin lebt, ist als Journalist und Sachbuchautor bekannt. Sein neuestes Werk ist ein vom Feuilleton hochgelobtes Sachbuch: "Heimat. Eine Suche".
"Wir sind alle Heimatgefangene." Diese persönliche Erkenntnis formulierte Thomas Medicus für seine ganze Generation. Der 1953 in Gunzenhausen geborene Autor hat ein schwieriges Verhältnis zu seiner Heimatstadt. Nach einer doch eigentlich idyllischen Kindheit folgten die Langeweile der Pubertät und das Gefühl, in der Kleinstadt zu versauern. Als der Vater durch Suizid stirbt, will der 17-Jährige nur noch weg aus der drückenden Provinz.
"In Gunzenhausen gab es keine Unschuld, nur die Vortäuschung der Unschuld. Die Nachkriegskinder gingen tagein, tagaus über einen doppelten Boden."
Autor Thomas Medicus
Nach dem Abitur macht er sich zum Studieren davon und kehrt nur noch sporadisch zu immer seltener werdenden Kurzbesuchen zurück. Undeutlich nimmt Medicus wahr, dass dieses zerrüttete Heimatgefühl auch etwas mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun hat.
"Es gab Vergangenheiten, an die man sich erinnerte und solche, an die man sich nicht erinnerte."
Autor Thomas Medicus
Doch eines Tages springt den Wahlberliner die Erinnerung an die ungeliebte verdrängte Heimatstadt regelrecht an, erklärt Thomas Medicus.
"Es rief mich eines Sonntags eine Freundin an in Berlin, die einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung entdeckt hatte. Die sagte: Das ist deine Geschichte. Da musst du dich drum kümmern. Und dann habe ich es mir angeguckt und traute meinen Augen nicht. Da kam gleich dieser aggressive Antisemitismus zur Sprache. Und von beidem wusste ich nichts. Ich wusste nichts von dem Pogrom, der im Mittelpunkt des Gunzenhauser Antisemitismus steht von 1934, bei dem zwei Juden ums Leben kamen. Und ich wusste nichts von J.D. Salinger, dessen Aufgabe als G.I. hier war, Gunzenhausen zu entnazifizieren, und der sich eben mit dieser Geschichte konfrontiert sah."
Autor Thomas Medicus
Diese beiden historischen Ereignisse, das erste tödliche Pogrom auf deutschem Boden in der Nazizeit und der bewunderte amerikanische Autor Salinger, der in Gunzenhausen vermutlich Teile seines berühmten Romans "Der Fänger im Roggen" geschrieben hat, elektrisierten Thomas Medicus und inspirierten ihn zu seinem "Heimat"-Buch. Bei den Recherchen kam ein autobiographischer Impuls dazu, als er in den Obduktionsberichten der beiden toten Juden die Unterschrift seines Großvaters entdeckte. Der Landarzt Otto Medicus wurde am Palmsonntag 1934 nicht nur an beide Tatorte gerufen, sondern musste zusammen mit einem Kollegen auch die Leichen des erhängten Jakob Rosenfelder und des erstochenen Max Rosenau obduzieren.
"Im einen Fall war es eindeutig Mord. Da spricht alles dafür. In dem anderen Fall war es kein Mord, sondern Selbstmord, aber unter der massiven Bedrohung des NS-Mobs, die in die Wohnung des Opfers eingedrungen waren, und der sich dann aus Angst erstochen hat. Das war also ein Selbstmord, der eigentlich doch ein Mord gewesen ist. Mein Großvater und der zweite obduzierende Arzt standen unter Beobachtung und offenbar unter ganz starkem Druck der Nationalsozialisten. Es durfte kein anderes Obduktionsberichtsergebnis herauskommen, als dass es sich nicht um Mord oder Fremdtötung gehandelt hat."
Autor Thomas Medicus
Wie Thomas Medicus sich auf Spurensuche begibt, in Gunzenhausen nach Kindheitserinnerungen gräbt, dem Pogrom, an dem ein Fünftel der damaligen Einwohnerschaft beteiligt war, nachforscht, J.D. Salingers Kriegserlebnisse, seinen Aufenthalt in Franken und die hier geschlossene Ehe rekonstruiert, die Geschichte der vertriebenen und zum Teil ermordeten Nachbarfamilie Dottenheimer erzählt und Nachfahren in den USA aufspürt, und sich im Laufe der Recherchen wieder anfreundet mit seiner viel weltoffener gewordenen Heimatstadt, das alles ist faszinierend und berührend zu lesen. Thomas Medicus will die Verhältnisse verstehen, in denen sich seine Großeltern und Eltern befanden und die ihn mitgeprägt haben.
Info & Bewertung
Thomas Medicus: Heimat. Eine Suche, Berlin 2014, Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-87134-761-0
"Heimat. Eine Suche" ist ein gut lesbares von großer Stilsicherheit geprägtes literarisches Sachbuch, das mal in mehr belletristischen, mal in mehr essayistischen Passagen, doch immer faktengesättigt Kriegs- und Nachkriegszeit in einer fränkischen Provinzstadt beschreibt. Keine Gunzenhauser Lokalgeschichte, sondern ein exemplarisches Buch über NS-Vergangenheit und Geschichtsverdrängung in der frühen Bundesrepublik, dem man zahlreiche Leser wünscht.
Autoren-Lesungen in Franken
Die nächsten Lesungen in Franken aus dem Buch finden am 1. Oktober 2014 in der Stadtbibliothek Nürnberg und am 14. November 2014 im Haus der Bürger in Pappenheim statt.
Stichwort: Thomas Medicus
Thomas Medicus wurde 1953 in Gunzenhausen geboren und wuchs dort als Sohn eines Arztes auf. Nach dem Abitur studierte er in Marburg Germanistik, Politikwissenschaft und Kunstgeschichte und wurde 1982 promoviert. Viele Jahre war er als Kulturjournalist u.a. bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dem Tagespiegel und der Frankfurter Rundschau tätig. Mehrfach wurde er als Fellow ans renommierte Hamburger Institut für Sozialforschung. Thomas Medicus lebt als freier Publizist und Autor in Berlin und im polnischen Dolgie. Neben wissenschaftlichen Publikationen erschienen drei vom Feuilleton hochgelobte Sachbücher. 2004 bei DVA das Buch über Medicus' Nazi-Großvater mütterlicherseits "In den Augen meines Großvaters", 2012 bei Rowohlt die Biographie "Melitta von Stauffenberg. Ein deutsches Leben" und 2014 "Heimat. Eine Suche". Für sein Gesamtwerk erhielt Thomas Medicus 2014 den Literaturpreis der Wilhelm und Christine Hirschmann-Stiftung in Treuchtlingen.
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