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Natascha Wodin Irgendwo in diesem Dunkel

Die als Kind von Zwangsarbeitern in Fürth geborene Autorin Natascha Wodin landete mit ihrem erschütternden Roman über ihre Mutter "Sie kam aus Mariupol" einen Bestseller. In ihrem neuen Roman beschreibt sie nun ihre düstere Kindheit in Franken.

Von: Dirk Kruse

Stand: 02.10.2018 | Archiv

Buchcover von Natascha Wodin - Irgendwo in diesem Dunkel | Bild: Rowohlt Verlag | Foto: BR-Studio Franken/Franz Engeser

Natascha Wodins autobiographischer Roman "Irgendwo in diesem Dunkel" beginnt dort, wo ihr Roman "Sie kam aus Mariupol" endete: beim Selbstmord der Mutter, die sich im Oktober 1956 in der Regnitz bei Forchheim ertränkte. Der heillos überforderte Vater, der sein Geld als Sänger in einem Kosaken-Chor auf Tournee verdient, bringt seine beiden Töchter vorerst in deutschen Pflegefamilien unter. Dann steckt er sie in ein katholisches Mädcheninternat in Bamberg, wo ein neues Martyrium beginnt.

"Als Elfjährige war ich in die Gruppe der Großen gekommen, die von Schwester Marie-Joseph geleitet wurde, einer dicken, rotgesichtigen Frau, die alle fürchteten. Generationen undankbarer Heimkinder hatten ihre Nerven ruiniert, so jedenfalls wurde ihr jähzorniges, cholerisches Temperament erklärt. Ihre flinken, an Sprungfedern erinnernden Hände fürchtete ich fast genauso, wie ich einst die meines Vaters gefürchtet hatte. Manchmal schlug sie uns auch mit Gegenständen, mit einer Triangel oder Rassel aus dem Musikzimmer, manchmal, wenn sie nichts anders zur Hand hatte, verwendete sie ihren langen Rosenkranz aus schweren Holzperlen, den sie um die Taille trug – ein immer parates Züchtigungsinstrument."

Zitat aus dem Roman 'Irgendwo in diesem Dunkel'

In dem von Nonnen geleiteten Waisenhaus wird Natascha Wodin regelmäßig verprügelt und bekommt die Angst vor der ewigen Verdammnis eingeimpft. Außerdem darf sie ihre jüngere Schwester jahrelang nicht sehen, die in der Gruppe der Kleinen untergebracht ist.

"Und ganz schlimm wurde mit der Sünde Sexualität gearbeitet. Wir waren ja dann auch alle in der Pubertät und hatten gewisse Fragen und Rätsel und Bedürfnisse. Das merkten die Schwestern natürlich auch. Und dann wurde hemmungslos geprügelt und geschlagen. Und es wurde uns immerzu gesagt, wie verdorben wir sind. Und das war schon eine ganz große Einsamkeit und eine ganz große Verlorenheit."

Natascha Wodin

Knechtschaft unter dem Vater

Als der Vater nach fünf Jahren seine Stimme verliert, holt er seine Töchter in die Siedlung am Forchheimer Stadtrand zurück, wo die ehemaligen russischen Zwangsarbeiter untergebracht sind. Doch die wiedergewonnene Freiheit entpuppt sich schnell als neues Gefängnis und der trunksüchtige Vater als brutaler Tyrann.

"Ich hatte meinen Vater ja fünf Jahre nicht gesehen. Ich kannte ihn kaum noch. Und erstmal war ich natürlich sehr glücklich, dass ich wieder in der Welt draußen war. Aber dann wurde ich sozusagen zur Zwangsarbeiterin meines Vaters. Er hielt mich in der Wohnung und ich durfte nur zur Schule und ansonsten nichts. So wie man das heute von manchen muslimischen Familien kennt. Die Töchter dürfen nicht mit deutschen Jungen sprechen. Und man ist mit schweren Strafen bedroht, wenn man das tut. Auch dass er mich totschlägt, hat er mir oft genug angedroht. Mein ganzes Leben spielte sich in einem Gefängnis ab, bis zu meinem 16. Lebensjahr. Und dann habe ich beschlossen: Jetzt ist Schluss. Jetzt gehe ich."

Natascha Wodin

"Er kontrollierte meine Putzarbeit und ließ mich noch einmal von vorn anfangen, ich musste alles zwei- oder sogar dreimal putzen, und weil es auch dann noch nicht sauber genug war, schlug er mich. Es war, als wäre ich selbst der Schmutz, den zu beseitigen mir nie gelang und den er nun endlich mit eigenen Hände austilgen wollte. Ich erstarrte unter seinen Schlägen, ich stellte mich tot – diese Kunst hatten mich seine Schläge schon früh gelehrt."

Zitat aus dem Roman 'Irgendwo in diesem Dunkel'

Obdachlosigkeit und Vergewaltigung

Beeindruckende sprachliche Kraft Natascha Wodin – "Irgendwo in diesem Dunkel"

Ihre Mitschüler verspotten Natascha Wodin zudem als "Russensau" und "Russenlusch". Mit sechszehn reißt sie von zuhause aus, haust in einem zugigen Holzverschlag an der Regnitz, wird obdachlos und bettelt. In Nürnberg wird sie brutal vergewaltigt. Doch dann keimt Hoffnung auf. Sie bekommt einen Job als Telefonistin, bezieht ein möbliertes Zimmer und kann für sich selbst sorgen. Viel zu spät entdeckt sie, dass sie durch die Vergewaltigung schwanger geworden ist und nimmt, weil ihr niemand helfen will, an sich selbst eine Abtreibung vor.

Dieser Roman ist wahrlich ein harter Stoff. So hat noch niemand eine Jugend im Franken der Wirtschaftswunderzeit beschrieben wie diese Außenseiterin. Zugleich ist dieser Roman nach dem Mutterbuch "Sie kam aus Mariupol" ein Requiem auf ihren gewalttätigen Vater.

"Als Kind und als Jugendliche hatte ich meinem Vater inbrünstig den Tod gewünscht. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich ihn meuchlings in den Fluss stieß, in dem meine Mutter sich ertränkt hatte, wie ich ihn vergiftete oder mit einem Messer erstach, ich hatte ihn als siechen, gelähmten alten Mann vor mir gesehen, der mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Wenn er eines Tages, schwach und hilflos geworden, auf mich angewiesen sein würde, wollte ich ihn eiskalt seinem Untergang überlassen, genauso wie er einst mich dem meinen."

Zitat aus dem Roman 'Irgendwo in diesem Dunkel'

Beeindruckende sprachliche Kraft

Info & Bewertung

Wertung: 5 Frankenrechen von 5 | Bild: BR

Natascha Wodin: Irgendwo in diesem Dunkel, Reinbek 2018, Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 978-3-498-07403-6

Dennoch kümmert sich Natascha Wodin bis zu seinem Tod um ihren alten, pflegebedürftigen Vater, auch wenn sie ihm niemals verzeihen kann. Ein hartes, aber kein bitteres Buch. "Irgendwo in diesem Dunkel" ist alles andere als ein Selbsthilfetext über erlittene Traumata. Es lässt und mitleiden und mitfühlen und demonstriert, wie aus einem geplagten Menschenkind eine bedeutende Autorin werden kann. Das ist große, bemerkenswerte Literatur von einer beeindruckenden sprachlichen Kraft.

"Ich bin ein Mensch, der mit diesen Erinnerungen lebt. Das ist für mich völlig normal, mich an meine Vergangenheit zu erinnern. Was sehr schwer ist, ist für solche brutalen Vorgänge die Sprache und den Ton zu finden. Das ist dann sehr harte Arbeit. Das Entgleiten lauert überall. Da geht immer nur ein ganz bestimmtes Wort und kein anderes. Und das ist dann eine sehr, sehr anstrengende Arbeit, bei der ich mich manchmal frage: Mensch, warum tust du dir das eigentlich an."

Natascha Wodin


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