Tanja Kinkel Schlaf der Vernunft
Die historischen Romane von Tanja Kinkel wurden Bestseller. Schon mit zehn Jahren schrieb die gebürtige Bambergerin ihren ersten Roman. Auch ihr neues Werk "Schlaf der Vernunft“ könnte in den Verkaufslisten bald weit oben stehen.
Tanja Kinkels Romane wie "Der Puppenspieler", "Die Söhne der Wölfin" oder "Im Schatten der Königin" wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und fanden eine oft begeisterte Leserschaft. Nun hat sich die in München lebende Autorin keinem weit zurückliegenden historischen Stoff verschrieben, sondern einem zeitgeschichtlichen – dem Deutschen Herbst 1977. Auch dieser neue, eher ungewöhnliche Tanja Kinkel-Roman "Schlaf der Vernunft" hat das Potenzial zu einem Bestseller.
Es ist 1998 in Bamberg. Die dreißigjährige Angelika Limacher, verheiratet und Mutter zweier kleiner Söhne, hat seit zwei Tagen einen Brief von der Justizvollzugsanstalt auf ihrem Schreibtisch liegen, den sie sich nicht zu öffnen traut.
"Es war keine Todesnachricht. Ganz gewiss war es keine Todesnachricht. Sie musste den Brief schon deswegen öffnen, um diesem albernen Gedanken ein Ende zu setzen. (…)
Lies, befahl sie sich. Das wenigstens schuldest du ihr. Lies den Brief.
'Sehr geehrte Frau Limacher, ich schreibe Ihnen aus eigenem Antrieb und ohne Wissen Ihrer Mutter, die vor kurzem die Nachricht erhalten hat, dass ihre Begnadigung durch den Bundespräsidenten Herzog…'
Die Schrift tanzte vor ihren Augen. Begnadigung. Ihre Mutter würde freigelassen werden."
Zitat aus dem Roman 'Schlaf der Vernunft'
Angelikas Mutter ist die ehemalige RAF-Terroristin Martina Müller, in den Medien auch "das Biest von Nürnberg" genannt. Angelika war acht als ihre Mutter sie bei den Großeltern zurückließ und in den Untergrund ging. Sie war elf als ihre Mutter nach einem Attentat auf einen Staatssekretär, bei dem vier Menschen getötet und einer schwer verletzt wurde, ins Gefängnis kam und jeden Kontakt zu ihr abbrach. Und jetzt, zwanzig Jahre später, forderte der Gefängnisgeistliche sie in dem Brief auf, sich um ihre Mutter zu kümmern.
In ihrem Roman "Schlaf der Vernunft" entfaltet Tanja Kinkel das packende Drama des Deutschen Herbstes. Sie lässt Täter und Opfer gleichermaßen zu Wort kommen. Nicht nur Angelika, die sich der Begegnung mit ihrer Mutter schließlich stellt und von der Terroristin Reue erwartet. Auch der Journalist Alex Gschwindner, Sohn des getöteten Chauffeurs, und etwa der Politiker Michael Werder, Sohn des getöteten Staatssekretärs, kommen zu Wort. Und natürlich Martina Müller selbst, deren Abgleiten in den Terrorismus in langen, raffiniert montierten Rückblenden erzählt wird.
Dass die 1969 in Bamberg geborene und aufgewachsene Tanja Kinkel, die für ihre oft weit zurückliegenden historischen Romane berühmt ist, sich einem zeitgeschichtlichen Stoff zuwendet, hat durchaus persönliche Gründe. Vorbild für den ermordeten Staatssekretär ist ein Bamberger Nachbar und Freund ihrer Eltern.
"Die Familien sind befreundet. Sie müssen sich vorstellen, es ist ein völlige Alltagssituation in den 70er Jahren. Und auf einmal kann der Mann nicht mehr zu uns kommen, und sei es auch nur für eine Grillfeier, ohne dass vorher Personenschützer die Lage auskundschaften. Das war auch für seine Familie sehr sehr belastend auf einmal dieses Leben im Goldfischglas zu haben. Er war Parlamentarischer Staatssekretär im Justizministerium und gehörte daher zum unmittelbar gefährdeten Personenkreis."
Autorin Tanja Kinkel
Aber es gibt noch weitere persönliche Verbindungen zum Deutschen Herbst 1977. Während ihres Studiums in München lernt Tanja Kinkel eine Klassenkameradin des Terroristen Andreas Baader kennen, und später dann Altachtundsechziger, die zum Unterstützerkreis der RAF gehörten. Und auf dem 70. Geburtstag ihres Namensvetters Klaus Kinkel – sie ist weder verwandt noch verschwägert mit dem ehemaligen Bundesjustiz- und Bundesaußenminister – macht sie eine interessante Entdeckung.
"Dort hörte ich das erste Mal, wie entscheidend eigentlich die Kinkel-Initiative, die er gestartet hatte, dafür war, dass die Sache mit der RAF dann schließlich in den 90er Jahren ein unblutiges Ende genommen hat, und sie sich selbst aufgelöst haben. Und ich habe dort auch die Witwe eines Opfers kennengelernt, was mich sehr bewegt hat. All das führte zusammen zu der Idee, die dann schließlich der 'Schlaf der Vernunft' wurde."
Autorin Tanja Kinkel
Klaus Kinkel war es auch, der die Autorin Tanja Kinkel bei ihren umfangreichen Recherchen unterstützte und sie Gesprächsprotokolle mit RAF-Terroristen lesen ließ.
"Bei Menschen, die ein paar Jahrhunderte tot sind, hat man keine Skrupel ihre Briefe und die intimsten Sachen zu lesen – selbst die nicht, die absolut für niemand anderen als für den Empfänger gedacht waren – und fühlt sich nicht als Voyeur. Aber wenn man über jemanden schreibt, der in die eigene Lebenswelt fällt und der hier und heute noch etwa lebt, dann fühlt man sich als Eindringling. Das ist übrigens auch der Grund, warum das Attentat in dem Roman ein Erfundenes ist, und desgleichen der Politiker, der dabei umgebracht wird und seine Personenschützer erfundene Figuren sind."
Autorin Tanja Kinkel
Info & Bewertung
Mit Schlaf der Vernunft hat Tanja Kinkel ein glänzend geschriebenes, klug komponiertes und sehr einfühlsames Buch über den Deutschen Herbst geschrieben. Eine Lektüre, die einen klüger macht und nachhallt.
Tanja Kinkel: Schlaf der Vernunft, München 2015, Droemer Verlag, 448 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3426199671
Kommentieren