Das sind die Länder und Konflikte
Die sozialen Proteste, die Ende 2010 in Tunesien beginnen, wirken in den arabischen Nachbarländern schnell wie eine Initialzündung. Nicht nur in Tunesien, auch in Ägypten, Libyen und Jemen werden die Regime gestürzt. In Syrien kommt es zum Bürgerkrieg.
Soziale, wirtschaftliche und politische Proteste
In Marokko, Jordanien und Bahrain protestieren die Menschen gegen die autoritären Regime. Dabei haben die Unruhen teilweise sehr unterschiedliche Ursprünge, was das Verständnis von Religion in Staat und Gesellschaft, die ethische Zusammensetzung der Bevölkerung oder auch das Profil der herrschenden Regime angeht. Der Islamismus, Wohlstand und die Historie des jeweiligen Landes spielen eine entscheidende Rolle - wie übrigens auch die westlichen Staaten, die mitunter ein Interesse daran haben, die etablierten Herrscher zu stützen, weil sie für Stabilität sorgen.
In jedem Fall geht es den Protestierenden aber um sozial, wirtschaftlich und politisch bessere Lebensbedingungen. Dabei sind es übrigens auch die neuen Medien - Blogs, Foren und soziale Netzwerke - die den Arabischen Frühling antreiben. BR.de hat die zentralen Konflikte genauer unter die Lupe genommen.
Hier wurden die Regime gestürzt
Tunesien
In Tunesien ereignet sich der Auslöser für den Arabsichen Frühling. Im Dezember 2010 verbrennt sich ein junger Gemüsehändler, weil er aufgrund der gesellschaftlichen Umstände im Land für sich keine Lebensperspektive mehr sah. Daraufhin kommt es zu landesweiten Massenunruhen in der Bevölkerung. Es geht den Menschen um den Protest gegen das autoritäre Regime und die Lebensbedingungen in Tunesien. Die Demonstrierenden, vor allem gut ausgebildete, arbeitslose Jugendliche, prangern vor allem die soziale Ungleichheit und die Bereicherung und Korruption der herrschenden Familie an. Außerdem geht es um das Rebellieren gegen einen von Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Islamismus errichteten Polizeistaat. Die Lage spitzt sich nach Wochen der Revolte immer mehr zu. Tunesiens Regierung versucht, die Proteste niederzuschlagen. Schließlich stellen sich aber auch führende Militärs auf die Seite der Demonstrierenden. Im Januar 2011 verlässt das tunesische Staatsoberhaupt Ben Ali nach 23 Regierungsjahren fluchtartig das Land. Daraufhin wird von Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi eine Übergangsregierung gebildet. Doch auch Ghannouchi muss nach massiven Protesten der tunesischen Bevölkerung wieder zurücktreten. Neuer Regierungschef ist Béji Caïd Essebsi.
Ägypten
Inspiriert von der Revolution in Tunesien beginnt im Januar 2011 der Aufstand in Ägypten. Die Menschen gehen auf die Straßen, versammeln sich vor allem am Tahrir-Platz in Kairo, um gegen das seit Oktober 1981 bestehende Regime des damals noch amtierenden ägyptischen Präsidenten Muhammad Husni Mubarak anzugehen. Mubarak wird Korruption und Amtsmissbrauch vorgeworfen - später wird er zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Auch wenn Proteste in Ägypten nicht neu sind, kommt der politische Umbruch für viele Beobachter überraschend. Denn bisher hatte die Regierung die Opposition durch Polizeigewalt und entsprechende Reformen ruhiggestellt. Der Sturz Mubaraks gelingt vor allem deshalb, weil sich eine breite Protestbewegung formieren kann. So ist es vornehmlich die junge Mittelschicht, die für bessere soziale Standards, bezahlbaren Wohnraum und genügend Arbeitsplätze kämpft. Hinzu kommt, dass gerade die jungen Ägypter sich zunehmend via Internet austauschen und auch aufgrund einer kritischen Presselandschaft immer besser informiert sind.
Im Februar 2011 wird Mubarak zum Rücktritt gezwungen - nachdem bereits hunderte Menschen zu Tode gekommen waren. An Mubaraks Stelle tritt ein Militärrat aus hochrangigen Offizieren. Im März 2011 wird die Verfassung in einem Referendum geändert. Den Protestanten werden unter anderem freie demokratische Wahlen zugesichert. Die Bildung neuer Parteien wird ermöglicht. Als stärkste Partei entwickelt sich die von der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründete "Partei für Freiheit und Gerechtigkeit" heraus. Doch die Unruhen enden nicht - auch nicht als der Muslimbruder Mohammed Mursi zum ägyptischen Staatsoberhaupt gewählt wird. Für viele der protestierenden, modernen Ägypter ist er lediglich das kleinere Übel. Ende 2012 eskalieren die Proteste von linken, liberalen und säkularen Kräften. Viele befürchten, dass die umstrittene Verfassung, die Ende 2012 neu gewählt wird, dem islamischen Recht - der Scharia - zu viel Raum geben würden. Weil Mursi die Kompetenzen der Justiz beschneidet und den Staatsanwalt austauscht, zieht er zudem noch den Zorn der Richter auf sich. Es herrscht ein Misstrauen gegenüber den Islamisten, selbst wenn diese sich im Kreis der Muslimbrüder weit gemäßigter als in der Vergangenheit zeigen. Wer Ägypten künftig regiert, ist noch völlig unklar.
Libyen
Auch in Libyen hat der Arabische Frühling zum Sturz des autoritären Regimes geführt. Die Ereignisse in Tunesien und Ägypten haben auch hier junge Menschen dazu ermutigt, den Unmut über ihre Lebensbedingungen auf die Straße zu tragen und nicht länger vor der staatlichen Repression zurückzuschrecken. Dabei ist der Umsturz in Libyen von Anfang an gewaltsamer als in Tunesien und Ägypten. Im Februar 2011 kommt es in der libyschen Hafenstadt Banghazi zu Protesten mit dutzdenden Toten. Ämter und Behörden werden in Brand gesteckt. Es kommt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Das Militär veranlasst, dass der Zugang zu sozialen Netzwerken gekappt wird. Erst nach mehreren Monaten und mit Hilfe der Nato gelingt es den Rebellen, das seit 42 Jahren herrschende Regime von Muammar al-Gaddafi zu stürzen. Dieser kommt später unter ungeklärten Umständen, wahrscheinlich aufgrund von Schussverletzungen, zu Tode.
Der Aufstand in Libyen ist anfangs viel weniger organisiert als in den Nachbarländern. Gaddafi hatte staatliche Institutionen geschwächt, es gab unter ihm nahezu keine politischen Parteien und Bewegungen. Jetzt muss nach und nach ein neuer Staat entstehen. Dabei gibt es kaum Erfahrungen mit politischen Parteien und demokratischen oder rechtsstaatlichen Institutionen oder gar eine Verassung. Im Juni 2012 gewinnt die liberale Allianz der Nationalen Kräfte die erste Parlamentswahl. Die Muslimbrüder werden zweitstärkste Kraft.
Jemen
Im Jemen will die Bevölkerung mit ihren Protesten einen Rücktritt des Präsidenten Ali Abdullah Salih und einen demokratischen Wandel erreichen. Aufgrund des immer größer werden Drucks erklärt sich Salih im April 2011 zunächst einverstanden, zurückzutreten - jedoch nur, wenn ihm Straffreiheit zugesichert würde. Die Proteste nehmen kein Ende. Hinzu kommt, dass aufgrund der herrschenden Situation vor allem im Südjemen ein Bürgerkrieg nicht auszuschließen ist. Bereits 2007 kam es hier zu einem Aufstand. Das Land ist insbesondere wegen der existierenden Spannungen zwischen dem Süden und Norden stark zersplittert. Zudem hat sich das islamistische Terrornetzwerk im Jemen Al-Kaida zukzessive ausgebreitet und sorgt für Aufruhr im Land. Im November 2011 unterzeichnet Präsident Salih ein Abkommen zur schrittweisen Machtübergabe. Er soll nach seinem Rücktritt Immunität genießen. Bei den Präsidentschaftswahlen wird Abed Rabbo Mansur Hadi - der einzige Kandidat - ins Amt gewählt.
Syrien
Die Protestbewegung in den arabischen Ländern führt dazu, dass im Frühjahr 2011 erste Anzeichen von Widerstand gegen das seit fünf Jahrzehnten herrschende syrische Baath-Regime erkennbar sind. Ein Gruppe von Schülern lässt die Spannungen eskalieren. Die Schulkinder sprühen Graffitis mit regimefeindlichen Äußerungen und werden bald darauf verhaftet. In der Folge kommt es zu Protesten in der Stadt Deraa, die Vertreter des Regimes mit brutalen Einsätzen des Militärs und regimetreuer Milizen niederzuschlagen versuchen. Die Brennpunkte weiten sich über das Land hinweg zu einem Bürgerkrieg aus. Dem Regime gelingt es nicht, die Proteste in den Griff zu bekommen. Die Repression lässt die Bevölkerung nicht mehr an den von Präsident Baschar Al-Assad offiziell verkündeten demokratischen Reformprozesse glauben. Zentrales Problem sind - ähnlich wie im Jemen - die Heterogenität und die vielen unterschiedlichen Gruppierungen im Land. Es gibt Araber, Kurden, Assyrern, Turkmenen und Palästinensern, darunter Sunniten, Alawiten, Christen, Drusen und Schiiten. Ein Ende des Konfilkts ist nicht in Sicht. Die Gewalt geht immer weiter - mit massiven Menschenrechtsverletzungen von Seiten des Regimes. Gleichzeitig scheint lange Zeit ein Zusammenbruch des Assad-Regimes nicht in Sicht.
Marokko/Jordanien
Der Arabische Frühling ist auch an Marokko und Jordanien nicht einfach vorbeigegangen. Die Auseinandersetzungen in den arabischen Ländern bestimmen seit Anfang 2011 die Politik in den autoritär regierten Monarchien. Es gibt starke soziale Proteste. Dennoch ist es hier nicht zum klaren Sturz eines Staatsoberhauptes wie in Tunesien, Ägypten und Libyen gekommen. In Marokko und Jorndanien ist der jeweilige König die wichtigste Person. Das heißt, der marokkanische König Mohammad VI. und König Abdallah II. in Jordanien können die von ihnen selbst ernannten regierungen absetzen und die Parlamente auflösen. Sie haben eine ne religiös-traditionelle Legitimität inne.
Im Gegensatz zu den anderen am Persischen Golf gelegenen Monarchien verfügen Marokko und Jordanien nicht über große Mengen Erdöl. Deshalb sind beide Länder stark auf die Zahlungen durch die USA, die EU und die arabischen Ölmonarchien angewiesen. Es herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, wobei vor allem die junge Bevölkerung betroffen ist. Deshalb haben die Protestierenden die Ereignisse in Tunesien und Ägypten zum Anlass genommen, um ihre Anliegen nochmal zum Ausdruck zu bringen. In Marokko wollen sie eine Demokratisierung des Landes im Sinne einer parlamentarischen Monarchie mit geschmälerten Machtbefugnissen des Königs. In Jordanien will die Opposition, die Muslimbruderschaft, eine konstitutionelle Monarchie mit realer Gewaltenteilung herbeiführen.
Der entscheidende Unterschied zu den Ländern, in denen der Arabische Frühling eskalierte, ist die Reaktion des Regimes. Denn in Marokko und Jordanien handeln die Könige, indem sie die Kritiker unterdrücken aber auch bewusst miteinbeziehen. So werden Demonstrationen überwacht, aber erlaubt. In Marokko werden beispielsweise mehrere tausend neue Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen. Im Juli 2011 wird die Verfassung geändert und Marokko in eine konstitutionelle, parlamentarische, demokratische Monarchie umbenannt. Die Rolle des Parlaments wird formell aufgewertet. Im Grundrechtskatalog werden Ausführungen zu Menschenrechten und politischer Partizipation vermerkt. Auch in Jordanien gibt es Verfassungsreformen. So gelingt es den Monarchien, mit ihrem Krisenmanagement für Zustimmung im Land zu sorgen - zumindest mittelfristig. Gerade in Jordanien werden die Proteste aber immer lauter.
Saudi-Arabien und seine Nachbarn/Kuwait/Bahrain
Saudi-Arabien, Kuwait oder Bahrain sind bisher im Zusammenhang mit dem Arabsichen Frühling nicht so sehr aufgefallen. Dennoch sollten die Ereignisse, vor allem in dem kleinen Inselstaat Bahrain, nicht unterschätzt werden. Der Ölreichtum der Länder am Persischen Golf gibt diesen eine große Bedeutung für die Weltwirtschaft. Das heißt: Das westliche Interesse an der Stabilität dieser Regime ist stärker ausgeprägt als am Fortbestand der Regime in Nordafrika. Der hohe Ölpreis macht es saudi-arabiens König Abdullah ibn Abd al-Aziz leicht, auf Proteste zu reagieren. Denn mit einem gewaltigen Subventionsprogramm sollen neue Arbeitsplätze geschaffen und Wohnungen gebaut werden. So kann die Situation in Saudi-Arabien - zumindest kurzfristig - beruhigt werden.
Im Nachbarstaat Bahrain dagegen kommt es ab Frühjahr 2011 zu starken Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Opposition. Bei dem Konflikt geht es vor allem um eine konfessionelle Auseinandersetzung. Die überwiegend schiitische Bevölkerung protestiert gegen das sunnitische Königshaus von Hamad ibn Isa Al Chalifa. Dabei sind die Schiiten, beeinflusst von ihren religiösen Zentren im Irak und Iran, stark auf dem Vormarsch. Hinzu kommt das Vormachtstreben des Iran.
Grundsätzlich sind die Monarchien am Golf, ebenso wie Marokko und Jordanien, stabiler als die Republiken in Nordafrika und Syrien. Die Herrscherhäuser sind hier schon länger etabliert als die Militärs und ihre Nachfolger in Nordafrika, in Syrien und im Jemen. Sie sind von der Bevölkerung insofern historisch legitimiert. Die Monarchien haben außerdem Konfliktherde rühzeitig erkannt und zur Beruhigung der Bevölkerung Reformschritte unternommen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die gesamt Golf-Region erschüttert wird, wenn nur eines der Länder geschwächt ist. Deshalb legen die Regime alles daran, die Region zu festigen. Der Wohlstand der Staaten spielt dabei eine große Rolle. Die Mitgliedstaaten des Golf-Kooperationsrats (GKR) haben beispielsweise den ärmeren Staaten Marokko und Jordanien angeboten, sich ihnen anzuschließen, und sie unterstützen sie mit finanziellen Leistungen.