Hans Magnus Enzensberger Ein Herz für den Spießer
Die Revolution hat also nicht gesiegt. Wer oder was dann? Der Spießer, stellte Enzensberger 1976 im Aufsatz Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums fest. Wie das? Darauf wäre nun kaum jemand gekommen. Ein Super-Intellektueller gab den Anwalt ausgerechnet für die Leute mit den Gartenzwergen und Hobbyräumen, über die Intellektuelle gewöhnlich nur ein Naserümpfen übrig haben. Enzensberger verblüfft gerne, tritt antizyklisch auf: Er sticht ins Wespennest, wenn sich allenthalben selbstzufriedener Konsens breitmacht - und verteilt Beruhigungspillen bei allgemeiner Aufgeregtheit. N
atürlich entdeckte Enzensberger nicht wirklich sein Herz für den Spießer. Er stellte lediglich fest, dass das Kleinbürgertum entgegen allen marxistischen Prophezeiungen nicht ausgestorben ist. Sein Pro für den Spießer ist in Wirklichkeit ein Contra gegen ewig gestrige Linke, die unverdrossen alte Träume hätscheln.
Bis auf weiteres - abgeklärt
Damit nicht genug: Seine Essays trugen plötzlich Titel wie Lob des Analphabeten, Zur Verteidigung der Normalität oder Mittelmaß und Wahn. Ein Vorschlag zur Güte. Manche verstanden seine neueren Texte als "Dokument einer Aussöhnung mit dem verhaßten Gemeinwesen". Andere hörten einen "Dauerton der Entwarnung". Hatte Alfred Andersch in den 50er-Jahren in Enzensberger noch einen "angry young man" gesehen, trug der seine Bestandsaufnahmen - und waren sie noch so besorgniserregend - nun zunehmend im Ton großer Gelassenheit und Abgeklärtheit vor. Auch gegenüber sich selbst: So bemängelte er an manchen seiner früheren Texten einen Ton der Rechthaberei.
Wider die Fortschrittsoptimisten
Dennoch wirkten Enzensbergers Texte gelegentlich immer noch wie ein Stich ins Wespennest: 1991 war die Verblüffung erneut groß, als er in einem aufsehenerregenden "Spiegel"-Artikel im irakischen Diktator Saddam Hussein Hitlers Wiedergänger erkannte.
Für diese Parallele musste Enzensberger Kritik von bis dato kaum erfahrener Heftigkeit einstecken. Später distanzierte er sich davon - zwar nicht in der Sache, aber von manchen Formulierungen. In den beiden Jahren darauf folgten die Essays Die große Wanderung über Migration sowie Aussichten auf den Bürgerkrieg. Enzensberger schaute sich in Ländern wie Brasilien oder Nigeria um und prognostizierte, dass die mit der Globalisierung einhergehenden schweren ethnischen Konflikte oder Gewalt-Eskalationen früher oder später auch europäische Metropolen ereilten. Seine wenig erfreulichen Befunde waren zugleich schallende Ohrfeigen für alle Fortschrittsoptimisten.
"Auf gutem Fuß mit Erbitterungen"
Prompt wurde der Vorwurf des Fatalismus erhoben - für ihn keine ernstzunehmende Kategorie: "Ich kann bei der Analyse der Verhältnisse nicht darauf achten, ob das moralisch erbaulich ist", konterte er 1992 in einem Interview im Bayerischen Rundfunk. Er nimmt bei seinen Erkenntnissen, Thesen, Beobachtungen nicht darauf Rücksicht, ob sie desillusionierend sind oder nicht. "Ich fand es immer bewundernswert, mit seinen Erbitterungen auf so gutem Fuß leben zu können", sagte einst Peter Rühmkorf über Enzensberger. Diese Fähigkeit blieb ihm auch in seiner Produktion von Lyrik erhalten, die ihm immer am wichtigsten war. Paradoxen Alltags-Wahnsinn, Banalität im Bösen fängt er in lapidaren Versen ab.
Spielerei gegen den literarischen Genie-Kult: Enzensberger vor dem von ihm entwickelten Poesieautomaten, der auch Fußballgedichte ausspucken kann
Zum Beispiel im Gedicht Zur Frage der Bedürfnisse (1991), in dem "(...) der Nazi nach dem brüllenden Meeting / sein Hündchen zum Pudelsalon bringt (...)". Diese Zeilen stammen aus Zukunftsmusik von 1991, bis heute folgten vier weitere Lyrikbände: 1995 Kiosk, 1999 Leichter als Luft, 2003 Die Geschichte der Wolken, 2009 Rebus.
Von der Wirkung der Schriftsteller
Die Stimme der Intellektuellen wird in der Öffentlichkeit längst nicht mehr so gehört, wie das noch vor 30, 40 Jahren der Fall war - egal ob in Deutschland, Frankreich oder Italien. Intellektuelle "Wortführer" werden nicht mehr gebraucht. Auch Enzensberger hat eine solche Rolle längst abgelegt (wenn er sie je innehatte), was ihn aber vermutlich wenig stört. Schon 1982 hatte er dazu, mit der Maske der Bescheidenheit, formuliert:
"Schriftsteller erzeugen keine großen gesellschaftlichen Bewegungen (...) Ich behaupte, Literatur muß man auf Verdacht machen. Man kann sie nicht in dem Gefühl machen, dies sei etwas Gutes für die Menschheit. Wenn man weitermachen will, muß man es auf das Risiko hin tun, daß das Ganze gesellschaftlich nutzlos ist."
"(...) Unfaßbar sind sie in höheren Lagen, (...) Leider, mit ihrem Leumund / steht es nicht zum besten. / Es sei kein Verlaß auf sie, heißt es. / Wo sie endeten, wo sie anfingen, nicht einmal das wisse man genau. (...)"
'Der Fliegende Robert' in den Wolken (aus dem Gedicht 'Die Geschichte der Wolken' von 2003)